Rezension zu Geschlechtliche, sexuelle und reproduktive Selbstbestimmung (PDF-E-Book)
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Rezension von Sascha Grünes
Das Buch »Geschlechtliche, sexuelle und reproduktive
Selbstbestimmung« aus dem Psychosozial-Verlag hat sofort mein
Interesse geweckt. Es behandelt viele Randthemen, die in der
Gesellschaft tabuisiert oder stark verzerrt werden. Bevor ich näher
darauf eingehe, möchte ich hier erst einmal den Klappentext
zitieren:
Selbstbestimmung geht über die Überwindung bzw. Abwesenheit von
äußerem Zwang hinaus. Sie erfordert positives Bewusstsein über
Möglichkeiten eigenen Handelns mit einem Spektrum von Anpassung bis
Ausbruch. Geschlechtliche Selbstbestimmung schließt Abweichung,
Veränderung und Deutungshoheit über körperliche Geschlechtsmerkmale
ein.
Im vorliegenden Buch wird »Selbstbestimmung« im
sexualwissenschaftlichen Diskurs aus akademischer und
aktivistischer Perspektive betrachtet. Die Beiträge beleuchten
Aspekte von Inter- und Transsexualität, Asexualität, Sexualität
unter Haftbedingungen, im Kontext von Behinderung sowie außerhalb
heterosexueller Paarbeziehungen. In ihrer Vielfalt sind die
Beiträge Zeitzeugnis, geben zugleich einen Ausblick auf die Zukunft
und tragen dazu bei, gängige Denkschablonen zu überwinden.
Eine Rezension ist insofern nicht einfach, da jeder Artikel /
Diskurs eine eigene Betrachtung verdient hätte. Außerdem lautet der
Oberbegriff zwar »Selbstbestimmung«, doch die Differenzierung in
geschlechtlich, sexuell und reproduktiv führt dazu, dass die Themen
sich sehr stark voneinander unterscheiden. So mag es zwar
Schnittmengen geben, doch die Lebenswelt eines Trans*identen
Menschen, der mit Outing und Sexualität zu kämpfen hat ist nicht zu
vergleichen mit den Bedingungen, denen ein heterosexueller Mensch
im Vollzug ausgesetzt ist, wenn er der Triebbefriedigung wegen
tabuisierte homosexuelle Kontakte praktiziert, den medizinischen
Spätfolgen, denen ein Inter*sexueller Mensch nach Zwangsoperationen
ausgeliefert ist oder den Fragen nach Abtreibung oder Austragung
einer ungewollten Schwangerschaft.
Dieser inhaltlich mehrfache Spagat wie auch die Ahnung, es mit
extrem trockener Ausführung zu tun zu haben, schreckte mich etwas
ab. Die Wichtigkeit der Themen und vor allem das Benennen so vieler
unterschiedlicher Tabus sorgte trotzdem dafür, dass ich mich
absolut für das Buch interessierte. Immer wieder lugte ich hinein,
legte es weg, las ein paar Seiten, legte es wieder beiseite. Bis
ich mir dann wirklich einen freien Tag dafür hernahmen und es in
einem Rutsch las.
Wer sich für die Themen interessiert aber sich vor trockenen
Ausführungen, langweiligen Fachbegriffen und viel zu
wissenschaftlicher Sprache fürchtet, dem möchte ich hiermit in
aller Deutlichkeit sagen: das Buch liest sich trotz der sachlichen
Aufarbeitung sehr flüssig. Um nicht sogar zu sagen spannend. Ich
habe – ja, es überrascht mich selbst, das bei einem Buch dieser Art
sagen zu müssen – mitgefiebert, mich stellenweise aufgeregt, wie
bei einem Pageturner nicht mehr aufhören können und am Ende den
ganzen Tag nur mit diesem Buch verbracht, mir immer wieder Notizen
gemacht, zwischendurch kurz selbst recherchiert. Eigentlich wollte
ich nur zu einzelnen Themen lesen und den Rest überfliegen, aber
selbst das, was mich zu Beginn eher weniger interessierte, habe ich
komplett verschlungen.
Die Autoren schreiben sachlich und gehen wissenschaftlich vor, die
Literaturliste nach jedem Artikel ist beachtlich. Trotzdem merkt
man den meisten eine persönliche Beteiligung an, etwa wenn Bauer &
Truffer mehrfach vom »Personenstandsmurks § 23 PStG« sprechen und
sich dadurch klar positionieren.
Die Themen werden nicht nur rational / wissenschaftlich behandelt,
sondern vor allem respektvoll und auch weitgehend parteiisch. Was
ich in diesem Fall sehr gut finde. Denn Gründe, warum Gefangene
bestraft werden sollen und kein Recht auf das Ausleben ihrer Libido
haben, oder warum Trans*Personen erst einmal begutachtet werden
müssen um Fehldiagnosen und somit Eingriff in gesunde Körper
auszuschließen, warum behinderte Menschen keine Kinder erziehen
sollen, gibt es mehr als genug in der Fachliteratur. Wichtig ist
neben all diesen Diagnosen, Begutachtungen, gesetzlichen Regelungen
auch, dass sich nicht nur Betroffene sondern auch Fachleute für
eine entsprechende Selbstbestimmung einsetzen und diese Rechte
kämpfen, und das tut dieses Buch.
Es ist wichtig, Tabus zu benennen. Nicht ausleben dürfen der
Libido, sexueller Notstand, Probleme beim Sex aufgrund einer
Dysphorie aus gefühltem und körperlichem Geschlecht, das soziale
Stigma eines freiwilligen Singles, allein die Probleme der
Namensgebung eines als falsch empfundenen Geschlechtsteiles, das
wird entweder in den Medien karikiert, totgeschwiegen oder
bagatellisiert. Hier werden diese Themen nicht nur angeschnitten,
sondern für Betroffene endlich ausgesprochen und für Außenstehende
schmerzlich nachvollziehbar dargestellt. Gerade bei den Themen, die
mich nicht betrafen und mit denen ich mich bisher wenig befasst
hatte, war ich teils sehr schockiert, welche Auswirkungen dies für
die Betroffenen haben kann und welches jahrelange Leid dies wohl
bedeuten mag.
Die Themen sind klar gegliedert (Trans*, Inter*, Asexuell,
Inhaftierung, Abtreibung). Zu Beginn jedes großen Themenkomplexes
ist ein Kapitel gestellt, in welchem die Grundproblematik benannt
wird. Etwa die Pathologisierung von Trans*Identität, die
medizinischen Hintergründe von Inter*Sexualität, die verschiedenen
Facetten der Asexualität oder die Situation einzelner Haftanstalten
hinsichtlich geschlechtlicher Trennung und Art der Unterbringung
von Gefangenen.
Es ist hilfreich, wenn man einzelne Grundlagen oder historische /
aktuelle Hintergründe kennt, etwa die Grundlagen von Judith Butlers
feministische Theorie, »Sexualität und Wahrheit« von Michel
Foucault oder der Begriff der totalen Institution von Erving
Goffman, das Geschehen um den Mord im Siegburger Gefängnis oder
ganz allgemein die Bedeutung des DSM oder ICD als
Diagnoseinstrument. Dadurch fällt das Lesen sehr viel einfacher,
wird das vorhandene Wissen vertieft. Allerdings ist es auch
möglich, ohne entsprechende Kenntnisse die Anliegen der einzelnen
Autoren zu verstehen, da die Basis jeweils kurz erklärt wird und
die Inhalte so beschrieben werden, dass man sie gut nachvollziehen
kann.
Da die Autoren unterschiedliche Anliegen behandeln, kommt es
teilweise vor, dass einzelne Dinge mehrfach genannt oder erklärt
werden, etwa Hintergründe zum ICD und DSM. Interessant ist auch für
den aufmerksamen Leser, wenn hier die Autoren unterschiedliche
Literatur zugrunde legen und sich auf ältere oder neuere Versionen
berufen oder diese im Kontext der historischen Entwicklung
miteinander vergleichen.
Was ich für mich festgestellt habe: das Buch ist extrem speziell.
Und obwohl bereits so viele Sonderthemen behandelt werden (etwa die
Probleme einer Sexualberatung für trans*idente Menschen mit ihrer
ganz eigenen Situation), gibt es noch immer viele Unterpunkte, die
keine Erwähnung finden (übergreifende Themen wären etwa
Trans*Identität in Haft. Oder es werden zwar auch homosexuelle
Trans*Personen benannt, dennoch finden die Probleme
gleichgeschlechtlicher Beziehungen von Trans*Männern nur am Rande
Erwähnung). Einfach, weil es nicht möglich ist, all die im Buch
benannten Sonderfälle noch weiter aufzuschlüsseln. Manche Kapitel
erklären, wie schwer es ist, selbst zu eher weit gefassten Themen
Studien mit verwertbaren Infos zu machen. So gab es etwa in der JVA
Tegel mit 1500 Inhaftierten lediglich einen Rücklauf von 35
Fragebögen (da viele nicht teilnehmen wollen, da es Postkontrolle
und somit kaum Anonymität gibt und da es ein sehr intimes Thema
ist, bei dem betroffene Personen sich nicht outen wollen), und
direkte Kontakte und Befragungen waren im Rahmen des Vollzuges
durch die Reglementierung nicht möglich. Sehr schön finde ich, dass
dann trotzdem in den einzelnen Aufsätzen darauf verwiesen wird,
dass dies nur ein Teil der Thematik ist. Es gibt immer wieder
Hinweise und Anreize sowie Literaturempfehlungen für Interessierte,
die sich weiter informieren möchten.
Es dürfte schwierig werden, einzelne Personen zu finden, die in
ALLEN Themen des Buches bewandert sind. Doch wer sich für
wenigstens eines, besser mehrere Bereiche der geschlechtlichen,
sexuellen oder reproduktiven Selbstbestimmung interresiert, der
wird auf jeden Fall sehr viel Information erhalten und seinen
Background deutlich erweitern. Es ist wichtig, auch über den
eigenen Horizont hinaus zu blicken und gemeinsam für seine Rechte
zu kämpfen. Hier wird ein sehr schöner Bogen gespannt, der es
ermöglicht, sich auch mit bisher Fachfremdem auseinanderzusetzen
und eine gemeinsame Basis zu schaffen.
Abschließend ist zu sagen: den Herausgebern ist es gelungen,
Autoren zu gewinnen, die nicht nur eine trockene Analyse schreiben,
sondern die mit Eifer für eine Sache schreiben und dieses Feuer auf
den Leser übertragen. Trotzdem es ein sehr detailliertes Fachbuch
mit wissenschaftlichem Hintergrund ist, spürt man beim Lesen klar,
dass einzelne Autoren für ihr Thema brennen und es ihnen ein
Anliegen ist, dies zu teilen. Ich lege das Buch allen ans Herz, die
sich als Aktivisten mit den Themen auseinandersetzen wollen oder
die beruflich mit den hier genannten Personengruppen befassen und
für sie einsetzen. Das Buch vertieft Wissen, eröffnet neue
Sichtweisen und bietet einen differenzierten Einblick.
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