Rezension zu Körperorientierte Ansätze für die Sexuelle Bildung junger Frauen (PDF-E-Book)
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Rezension von Ann-Kathrin Kahle
Thema
Wie im Titel benannt geht es in dem Buch darum, Möglichkeiten
auszuloten den eher kognitiven oder emotional-reflexiven Umgang mit
dem Körper in der gängigen Praxis der Sexuellen Bildung um eine
sinnlich-konkrete Erfahrungs- und Lernebene zu erweitern. Als
Quellen dienen der Autorin der sexualtherapeutische Ansatz des
Sexocorporel und das Tantra, die auf ihre Nutzbarkeit für
sexualpädagogische Lernprozesse hin untersucht werden.
Zielgruppe
Zielgruppe sind junge erwachsene Frauen.
Autorin
Julia Sparmann ist Sexualwissenschaftlerin und Theaterpädagogin.
Ihr Buch erscheint in einer Reihe »Angewandte Sexualwissenschaft«
der Hochschule Merseburg, die den Transfer zwischen Theorie und
Praxis zu fördern sucht.
Aufbau
Das Buch umfasst drei Kapitel.
Zu 1. Körperorientierung in der Sexuellen Bildung
In ihrem ersten Kapitel nimmt die Autorin zunächst eine Einordnung
des, außerhalb der Fachwelt wenig geläufigen Begriffs Sexuelle
Bildung vor. Er wird historisch als dritte Phase nach
Sexualaufklärung und Sexualpädagogik verortet. Kennzeichen sind
neben der stärkeren Betonung der Selbstaneignung und Selbstformung
in Ergänzung zu rein präventiven Ansätzen die Ausweitung auf alle
Altersgruppen sowie die Betonung des ganzheitlichen Charakters
(Valtl und Sielert 2012).
In der anschließenden Zielgruppenbeschreibung wird ausführlich die
Gruppe der sog. jungen erwachsenen Frauen beschrieben.
Biographisch ist die Altersphase zwischen ca 18 und 35 Jahren
sowohl von größerer individueller Entscheidungsfreiheit auch in
Bezug auf das Leben von Sexualität als auch von so prägenden
Einschnitten wie Partnerschaft und ggf. Verhütung,
Schwangerschaftsabbruch und Mutterschaft geprägt. Gleichwohl fehlt
es für diese Altersgruppe an Konzepten und Angeboten der Sexuellen
Bildung.
Ausführlicher werden soziokulturelle Faktoren beschrieben, die
Einfluss nehmen auf das Körpererleben und damit auf die
geschlechtliche Identität. Als theoretische Basis wird die
Unterscheidung zwischen »Körper-Haben« und »Leib-Sein« nach
Stockmeyer angeführt. Die Bedeutung und Notwendigkeit der
subjektiven Aneignung des Körpers wird betont und gleichzeitig die
Schwierigkeiten durch die Einflussfaktoren von Medien und Kommerz
benannt. Attraktivität und Funktionalität als gesellschaftlich
transportiertes Körperideal prägen ein Körperempfinden, das stark
durch einen bewertenden Außenblick geprägt ist. Die so
diagnostizierte entfremdete Selbstwahrnehmung verweist auf den
konkreten Bedarf nach Angeboten für diese Zielgruppe, die
individuelle Aneignungsprozesse ermöglichen.
Im nächsten Schritt wird der Begriff der Körperorientierten
Methoden als »Lernen vom Körper« (nach Gies und Koppermann) näher
erläutert sowie ein Modell der »Körperbildung« unter Rückgriff auf
Valtl entwickelt.
Die abschließende Bestandsaufnahme fällt erwartungsgemäß dünn aus;
es gibt Ansätze in der Sexualpädagogik, die sich allerdings
vorrangig an Jugendliche wenden und zudem bislang wenig theoretisch
fundiert sind. Aus den wenigen Angeboten im Erwachsenenbereich
wählt die Autorin die Ansätze des Tantra und die der Körpertherapie
als sog. »Quellen« aus um sie auf ihre konkrete Anwendbarkeit für
das zuvor beschriebene Ziel hin zu überprüfen.
Zu 2. Körper(psycho)therapien
Im zweiten Kapitel wird der Ansatz Wilhelm Reichs sowie der seiner
Schüler Alexander Lowen und Jack Lee Rosenberg dargestellt,
insbesondere das Körperkonzept mit den Begriffen Muskelpanzerung/
Körpersegmente sowie die Idee der Energielehre. Die einzelnen
Punkte werden durch eine sog. Zwischenbilanz abgeschlossen, die
erste Hinweise auf die Verwendbarkeit im Rahmen Sexueller Bildung
liefert. Einzelne Körperübungen aus der Bioenergetik werden
vorgestellt und ebenfalls auf ihre Anwendbarkeit hin überprüft. In
dem abschließenden Fazit kommt die Autorin zu dem Schluss, dass
sowohl die Grundidee der körpertherapeutischen Ansätze als auch
einzelnen konkreten Übungselemente unter Beachtung der Grenzen
eines pädagogischen und nicht therapeutischen Settings zu nutzen
seien.
Sexocorporel, ein aus Kanada stammendes sexualtherapeutisches
Konzept, dient als weitere Quelle und wird im nächsten Kapitel in
paralleler Struktur dargestellt. Ganzheitlichkeit und
Körperorientierung als wesentliche Merkmale ermöglichen
Anknüpfungen an den vorherigen Ansatz. Die therapeutischen Inhalte
verweisen allerdings auf einen stärker lerntheoretischen
Blickwinkel, der sich nach Ansicht der Autorin gut mit der
pädagogischen Idee der Sexuellen Bildung verbinden lässt. Die hier
beschriebenen sexuellen Aneignungsprozesse fokussieren die
Erlernbarkeit sexuellen Erlebens und damit Ressourcenorientierung
und weniger pathologische Sichtweisen auf Störungen. Und auch in
diesem Ansatz gibt es bereits ein breites Spektrum an bewährten
Methoden im Sinne konkreter Körperübungen. Mit dem Stichwort
sexuelle Selbstsicherheit wird ein weiterer Aspekt des Konzepts
dargestellt. Stolz auf die eigene Weiblichkeit und explizit auf das
eigene Genital wird in einen unmittelbaren Zusammenhang zum
positiven sexuellen Erleben gestellt. Ein Aspekt der ebenfalls
nutzbar gemacht werden kann.
Schließlich wird Tantra als dritte Quelle aufgeführt und zunächst
in seiner Entwicklung und Unterscheidung zwischen traditionellem
Tantra und Neo-Tantra dargestellt. Letzteres hat bereits eine
Adaption aus dem ursprünglich fernöstlichen Kulturraum in die
westliche Welt erfahren und bietet sich daher eher zur Übertragung
an. Mit der Betonung von Ganzheitlichkeit und Körperlichkeit zeigt
sich wiederum eine Parallele zu den bereits untersuchten Quellen.
Mit dem Aspekt der Spiritualität der auch dem Neo-Tantra eigen ist,
taucht allerdings ein neues Element auf. Verstanden als Möglichkeit
des tieferen Verankerns im Selbst, wird der ursprünglich religiöse
Aspekt der Spiritualität ausgeklammert. – Ob dies sinnvoll oder
überhaupt möglich ist, sei einmal dahingestellt und soll an dieser
Stelle nicht diskutiert werden.
Die besonderen Strukturelemente des Neo-Tantra wie Gruppensetting/
Lerngemeinschaft und das tantrische Ritual werden beschrieben als
gewinnbringend für Sexuelle Bildungsseminare gewertet. Als
theoretische Basis werden die Chakra-Lehre und die Idee der
energetischen Polarität kurz dargestellt und als wissenschaftlich
unzureichend fundiert bzw. aus dem Genderdiskurs kritisch zu
betrachten gewertet. Aus dem Bereich der praktischen Methoden des
Neo-Tantra lassen sich nach Ansicht der Autorin eine ganze Reihe
Anregungen für die Arbeit mit jungen Frauen finden: z.B.
Achtsamkeitsübungen zur Schulung der Präsenz, zu Atem und
Muskeltonus.
Zu 3. Diskussion der Ergebnisse
Im letzten Kapitel werden die drei Quellen unter verschiedenen
Gesichtspunkten verglichen und Unterschiede wie auch
Gemeinsamkeiten herausgearbeitet. Insbesondere im Bereich der
Methoden werden die übereinstimmenden Akzente wie Atmung,
Muskeltonus, Köperwahrnehmung und Berührung noch einmal dezidiert
herausgestellt.
Die Möglichkeiten und Grenzen des Transfers werden anschließend
bedacht, indem das Spezifische und Gewinnbringende der einzelnen
Ansätze betont wird: die Möglichkeiten der Energetisierung aus den
Körperpsychotherapien, das fundierte Körperwissen des Sexocorporel
sowie Anregung zu Berührung und Ritualen aus dem Neo-Tantra.
Die abschließenden Überlegungen betonen noch einmal die
Notwendigkeit einer ideologiekritischen Überprüfung aller Ansätze
sowie die Abgrenzung von vorrangig therapeutischen Settings. Unter
dem Stichwort Intimität wird die Aufgabe der Grenzachtung und der
Reflexion der eigenen Rolle durch die Leitung diskutiert; der
Zeitfaktor und die notwendige Leitungskompetenz werden ebenfalls
noch kurz behandelt.
Diskussion und Fazit
Ein sehr dichtes und zugleich ambitioniertes Werk, das sowohl
inhaltliche Tiefe wie klare Struktur aufweist. – Auch wenn die
Länge des Rezensionstextes etwas Anderes vermuten lässt: das Buch
hat nur 105 Seiten! – Das Anliegen körperorientierte Ansätze für
die Sexuelle Bildung mit jungen Frauen aufzuzeigen, kann als
gelungen bezeichnet werden. Die/der Leser/in erhält einen guten
ersten Einblick in die ausgewählten Quellen und eine Fülle an Ideen
und Anregungen. Gleichwohl ist es kein Methodenbuch! Für die
konkrete Anwendung ist sicherlich eine vertiefte theoretische wie
praktische Beschäftigung mit den verschiedenen Ansätzen als auch
die sorgfältige Entwicklung konkreter Didaktik-Methodik
notwendig.
Nun stellt der Bereich der Sexuellen Bildung mit jungen Frauen in
freiwilligen Settings eine (bislang) vergleichsweise kleine Größe
innerhalb der Sexualpädagogik dar. Die überwiegende Mehrzahl der
Veranstaltungen findet mit der Zielgruppe »Jugendlichen« statt und
das Setting ist selten ein ganz freiwilliges; ob und inwieweit die
hier entwickelten Ideen auf die gängige Sexualpädagogik übertragbar
sind, scheint auf den ersten Blick fraglich und müsste intensiv
bedacht werden.
Gleichwohl wäre es wünschenswert, dass die hier vorgestellten
Ansätze Einklang finden in die Ausbildung von sexualpädagogisch
Tätigen und dass sie diskutiert werden im Kreis der Praktiker_innen
auf ihre Anwendbarkeit hin.
Zitiervorschlag
Ann-Kathrin Kahle. Rezension vom 04.05.2016 zu: Julia Sparmann:
Körperorientierte Ansätze für die Sexuelle Bildung junger Frauen.
Eine interdisziplinäre Einführung. Psychosozial-Verlag (Gießen)
2015. ISBN 978-3-8379-2519-7. In: socialnet Rezensionen, ISSN
2190-9245, http://www.socialnet.de/rezensionen/20450.php, Datum des
Zugriffs 30.11.2016.
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