Rezension zu Geschlechtliche, sexuelle und reproduktive Selbstbestimmung (PDF-E-Book)

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Rezension von Daniela Jauk

Selbstbestimmung in Zeiten von Neosexualitäten. Eine Buchkritik

Ich wurde auf das Buch »Geschlechtliche, sexuelle und reproduktive Selbstbestimmung« (herausgegeben von Heinz-Jürgen Voß und Michaela Katzer) auf einer feministischen mailinglist aufmerksam. Der Begleittext versprach eine praxisorientierte Betrachtung von »Selbstbestimmung« aus sexualwissenschaftlich-akademischer ebenso wie aktivistischer Perspektive. Die Beiträge sollten auch Asexualität, Behinderung und Inter- und Transsexualität behandeln. Besonders Asexualität wurde bisher selten diskutiert, wenn wir im deutschsprachigen Raum von non-normativen sexuellen Orientierungen sprechen. Da war ich gespannt.

Gleich vorweg mein Urteil: Der Band hält, was er verspricht, ist spannend zu lesen, wirbelt neuere Themen auf und ist sehr zugänglich geschrieben auch für Einsteiger_innen in die Materie. Eine Einschränkung ist, dass die Autor_innen sich dezidiert nur auf den bundesdeutschen (gesetzlichen und aktivistischen) Kontext beziehen.

Reproduktive Selbstbestimmung

Das Buch wählt explizit eine Dreiteilung der das Geschlechtliche betreffenden Selbstbestimmung: der reproduktiven, der sexuellen und der geschlechtlichen. Damit wird einem »alten« Verständnis von Sexualität vorgebeugt in dem Fortpflanzung am höchsten gewichtet ist. In der Tat nimmt sich das Kapitel der reproduktiven Selbstbestimmung mit drei Beiträgen am schmalsten aus (zur sexuellen Selbstbestimmung äußern sich fünf Beiträge, zur geschlechtlichen Selbstbestimmung sieben).

Auch wenn andernorts zurecht kritisiert wurde, dass Behinderung nur durch den Aspekt der Reproduktion in diesem Buch abgehandelt wurde (und Lust, Sex, Körper, Sexualbegleitung etc. ausgespart bleiben), war es für mich doch sehr spannend von Modellen zu erfahren, wie Elternschaft für behinderte Menschen möglich gemacht werden kann (326 ff.). In der BRD gibt es Elternassistenz, die vorwiegend für Menschen mit körperlichen Beeinträchtigungen oder Sinnesbehinderungen für einen begrenzten Zeitraum, meist während die Kinder klein sind, vorgesehen ist. Für Menschen mit kognitiven oder psychischen Beeinträchtigungen gibt es begleitete Elternschaft, die ambulant und stationär angeboten wird, und auch bis zur Volljährigkeit der Kinder dauern kann. Bei der Beanspruchung von beidem gibt es in der Praxis noch gravierende Probleme. Die Kapitel zu Reproduktion außerhalb des heteronormativen Kontextes und Selbstbestimmung im Kontext Abtreibung sind gute Einführungstexte, die durchaus für die Lehre von Studienanfänger_innen brauchbar sind.

Das Abtreibungskapitel hat mir besonders gefallen. Es arbeitet sehr klar den ungeklärten feministischen Konflikt um die Verwendung des Selbstbestimmungsbegriffs heraus (Gibt es noch eine Selbstbestimmung in Zeiten der Pränataldiagnostik? Wo ist die Grenze zwischen Selbstbestimmung und Eugenik?) Außerdem beruht es auf einer Masterabeit – d.h. es wird akademischer Nachwuchs gefördert, was keine Selbstverständlichkeit für einen Sammelband ist …

Sexualitäten in Haft

Sehr interessant sind auch die drei Beiträge zu Sexualität im Gefängnis, ein sehr tabuisiertes Thema, das noch hohen Forschungsbedarf aufweist. Es wird zumindest bei einem Beitrag deutlich, dass der Feldzugang schwer ist und Forschung in dem Bereich vom Justizsystem auch nicht sehr erwünscht ist. Im Gegensatz zu Filmen und Serien präsentiert sich der Gefängnisalltag nicht sexualisiert und luster, sondern sehr eintönig und unaufgeklärt. So genannte »Langzeitbesuche« (in denen Partner_innen auf längere Besuche kommen dürfen, die Sex theoretisch ermöglichen könnten) gibt es derzeit nur in einem einzigen Landesstrafvollzug in der BRD (p.245) – wie das funktioniert ist aber unklar. Die Tabuisierung der Sexualität im Strafvollzug und die Universalität von Homofeindlichkeit verunmöglicht auch einen effektiven Infektionsschutz (HIV/Aids) im Strafvollzug. Kondome, die eigentlich frei zugänglich sein sollten, müssen beim medizinischen Dienst beantragt werden und niemand will als schwul gelten (an Zahlen verdeutlicht: in den Jahren 2005-2007 befanden sich etwa 13.000 Gefangene in Haftanstalten, in diesem Zeitraum wurden 43 Kondome abgegeben, p. 258).

Gewalt ist ein Problem: Bei einer Befragung in Nord- und Ostdeutschland 2012 gaben ein Viertel der Männer und Frauen in Haft an, körperliche Gewalt erlebt zu haben, und rund die Hälfte der Jugendlichen (Sexuelle Gewalt: 4.5% Männer, 3,6% Frauen, 7,1% Jugendliche, p.261). Auch Themen wie Übergriffe von sexualisierte Gewalt durch Personal, Sexualstraftäter_innen in Haft (mit eigener empirischer Untersuchung, die ich wenig aufschlussreich fand, p.278 ff.), Masturbation und haftbedingte Homosexualität (p.275 f.) werden angesprochen, wenngleich die Datenlage insgesamt dünn ist. Im Gegensatz zu neuerer US-Literatur, Lobbyarbeit und Aktivismus ist jedoch LGBTIQ im Gefängnis in diesem Band überhaupt kein Thema.

Asexuell, Inter, Trans

Spannend sind die zwei Kapitel, die sich mit Asexualität beschäftigen, da hier einführend viele Begriffe geklärt werden und sichtbar wird, dass in der deutschsprachigen Sexualwissenschaft Asexualität (noch) kein Thema ist, wenngleich es seit einigen Jahren ein deutschsprachiges Forum des Asexual Visibility and Education Network und andere Vereine, zum Beispiel AktivistA gibt. Asexualität ist eine sexuelle Orientierung mit keiner oder geringer Anziehung zu anderen Menschen – dies kann, muss aber romantische Beziehungen nicht einschließen. Dies heißt auch nicht zwangsläufig, dass asexuelle Menschen keinen Sex haben (Orientierung ist nicht Verhalten).

Es wird davon ausgegangen, dass etwa 1 Prozent der Menschen asexuell sind, wobei ein »fehlender Sexualtrieb« noch immer als Störung im DSM geführt wird. Amatonormativität (soziale Norm, die romatische Beziehungen höher bewertet als Freund_innenschaften) und Allosexismus (wir müssen alle immer Sex haben wollen) machen Asexualität unsichtbar. »Queer-platonische Beziehungen« schaffen Raum und passen weder in die Kategorie Romantik noch Freundschaft.

Ich beziehe mich in dieser Rezension ausführlicher auf die für mich persönlich innovativen Beiträge, wenngleich die drei Kapitel zu Trans_Selbstbestimmung, eine kleine empirische Untersuchung zu Transidentität, sexueller Zufriedenheit, Sexualberatung und ärztlichen Erfahrungen sowie Empfehlungen zu Inter- und Transsexualität praxisorientiert, wunderbar und wichtig sind. Aber zu Trans_gender und Intersex gab und gibt es in letzter Zeit doch einiges zu lesen.

Der Beitrag der Mitherausgeberin ist in diesem Kontext bemerkenswert, da er sich – aus ärztlicher Sicht – vehement gegen Operationen an Kindern und Jugendlichen »mit selteren Entwicklungsformen körperlicher Geschlechtsmerkmale« (sic!) ausspricht. Ein Spektrum von Intersex-Genitalverstümmelungen und Intersex-Pathologisierung in Psychologie, Pädagogik, und sozialer Arbeit sind jedoch noch immer virulent, wie in anderen Beiträgen zum Ausdruck gebracht wird, und stehen der Selbstbestimmung von intersexuellen Menschen im Wege.

Gute, leicht zugängliche Mischung

Durch die beiden Herausgeber_innen ist der Band zwar wissenschaftlich verortet an der Hochschule Merseburg, die Inhalte und Beiträge sprengen jedoch die Grenzen und Begrenzungen eines normativen wissenschaftlichen Diskurses. Die 18 Autor_innen bilden eine anregende und spannende Mischung aus Aktivist_innen, Wissenschaftler_innen, Praktiker_innen aus Medizin, Soziologie, Pädagogik, Psychologie und Sozialarbeit, freien Autor_innen – manchmal in ihren ko-existierenden Rollen.

Der aktivistische und emanzipatorische Zugang, der sich durch das Buch zieht, macht es zu einem richtig positiven Leseerlebnis – auch wenn die meisten Beiträge sehr klar Begrenzungen der Selbstbestimmung, Ausgrenzungsprozesse und Diskriminierung im Blick haben und an sich traurig stimmen. Es ist angenehmerweise jedenfalls ein Buch bei dem man sich alles andere als mühsam durch die Seiten kaut, die meisten Beiträge erschließen sich den Leser_innen in leicht verständlicher Sprache und geschmeidigen Strukturierungen und machen dadurch Lust weiter zu lesen.

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