Rezension zu Geschlechtliche, sexuelle und reproduktive Selbstbestimmung (PDF-E-Book)
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Rezension von Dr. phil. Anja Gregor
Thema
Michaela Katzer und Heinz-Jürgen Voß legen mit dem hier
vorgestellten Sammelband eine gelungene Auswahl von Perspektiven
vor, die einen Bereich beleuchten, dem sich Wissenschaft ebenso wie
Praxis bislang nur vereinzelt widmen: Verhandlungen von
geschlechtlicher, sexueller und reproduktiver Selbstbestimmung. Sie
liefern damit einen wichtigen Beitrag, um eine breitere Diskussion
der Themen Asexualität, Inter*geschlechtlichkeit oder Sexualität im
Gefängnis ebenso wie der Kritik an Trans*Pathologisierung und
diversen Reproduktionstechniken und -normen zu ermöglichen.
Hinzuweisen ist bereits hier auf den erfreulich und
bedauerlicherweise weit(er)hin außergewöhnlich großen Anteil
»Betroffener«, die zu Wort kommen; es handelt sich mithin um einen
Sammelband, der eben diese meist unterrepräsentierten Perspektiven
im Sinne einer »solidarischen Forschungshaltung« (Mecheril 2012)
sichtbar macht.
Herausgeber_innen
Michaela Katzer ist Urologin mit mehreren Jahren Berufserfahrung am
Universitätsklinikum Halle und aktuell Mitarbeiterin im
Forschungsprojekt »Schutz von Kindern und Jugendlichen vor
sexueller Traumatisierung« (Informationen:
http://ifas-home.de/forschung/forschungsprofessur/ [24.05.2016]).
Ihre Forschungsschwerpunkte sind »Intersexualität,
Transsexualismus, Sexualität und Behinderung«, zudem engagiert sie
sich theoretisch wie praktisch für eine »Verbesserung der
Selbstbestimmung durch verständliche Vermittlung medizinischer
Sachverhalte an Patient_innen und Laienpublikum« (S. 355). Das o.g.
Projekt wird geleitet von Heinz-Jürgen Voß, Professor_in für
Sexualwissenschaft und sexuelle Bildung an der Hochschule
Merseburg. Voß promovierte 2010 zur Konstruktion des biologischen
Geschlechts; die Dissertation fand unter dem Titel »Making Sex
Revisited« großen Anklang in der Geschlechterforschung und weit
darüber hinaus. Voß publiziert zudem vielseitig und intersektional
informiert u.a. zu queer-feministischen und kapitalismuskritischen
Themen.
Michaela Katzer ist mit dem Artikel Ȁrztliche Erfahrung und
Empfehlung hinsichtlich Transsexualismus und Intersexualität« zudem
als Autorin im Sammelband vertreten.
Entstehungshintergrund
Der Sammelband ist der fünfte Band der Reihe »Angewandte
Sexualwissenschaften«, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, einen
Dialog »zwischen theoretischen Debatten und praktisch orientierten
Perspektiven von Beratungsstellen und Selbstorganisationen [zu]
fördern« (S. 15).
Der hier besprochene Band möchte zur Reflexion aktueller
gesellschaftlicher Entwicklungen von Geschlechtlichkeit und
Sexualität einladen. Dies erscheint auch gerade im Hinblick auf
Angewandte Sexualwissenschaften, also einer praktischen
Kompensation aktueller gesellschaftlicher Entwicklungen, notwendig,
um »analytisch präzise die unterschiedlichen Facetten im Blick zu
behalten« (S. 9) und also Sexualität, Geschlecht und Reproduktion
als dynamisch verbundene Kategorien verstehen zu können.
Aufbau
Nach einer Einleitung werden die Beiträge unterteilt in die drei im
Titel angekündigten Bereiche:
1. Geschlechtliche Selbstbestimmung
2. Sexuelle Selbstbestimmung
3. Reproduktive Selbstbestimmung
Der erste Bereich legt Möglichkeiten und Grenzen der
Selbstbestimmung im Bereich Trans*- Pathologisierung offen und
diskutiert den Stellenwert von Selbstbestimmung im Leben
inter*geschlechtlicher Menschen. Teil II. lotet die Möglichkeiten
zur sexuellen Selbstbestimmung asexueller Menschen und Menschen im
Gefängnis aus. Abschließend werden in III. das Recht auf
Abtreibung, die reproduktive Selbstbestimmung von Menschen mit
Behinderung und nicht-heteronormative Reproduktionspraktiken
kritisch im Hinblick auf Selbstbestimmung diskutiert.
Ausgewählte Inhalte
Aus Platzgründen verbietet sich im Folgenden eine ausführliche
Dokumentation aller Artikel, stattdessen werden aus Sicht der
Rezensentin hilfreiche Beiträge und bedeutsame Beitragsausschnitte
kurz präsentiert.
Anne Allex und Diana Demiel dokumentieren im ersten Artikel des
Bandes die politische Arbeit der internationalen Kampagne »Stop
Trans*-Pathologisierung«. Der Beitrag macht insbesondere in den
»Ausblicken« (S. 32ff.) deutlich, welche Wirkmächtigkeit diese
Bewegung bereits entfaltet hat. Michaela Katzer stellt am Ende
ihres Artikels eine 55 Punkte starke Liste von »Schlussfolgerungen,
Thesen und Vorschlägen« vor, die nicht nur als Leitfaden und mithin
Reflexionshilfe für praktizierende Mediziner_innen im Umgang mit
Inter*geschlechtlichkeit dringend zu empfehlen ist, sondern das
komplexe Gefüge des selbstorganisierten politischen Kampfes
inter*geschlechtlicher Menschen eindrücklich darstellt – der in den
folgenden zwei Beiträgen von Heike Bödeker sowie Marcus Bauer und
Daniela Truffer eindrücklich konkrete Gestalt annimmt.
Während Nadine Schlag sich in ihrem Beitrag der Asexualität nach
einer grundsätzlichen Definition über diskursive Aushandlungen
nähert und so kritisch herausstellt, das »Asexualität als
Forschungsgegenstand der deutschsprachigen Sexualwissenschaft […]
nicht relevant« zu sein scheint, wird Asexualität als sexuelle
Orientierung im Beitrag von Andrzej Profus gerade durch den
Einbezug diverser Stimmen aus der asexuellen Community gleichsam
»plastisch«. Beide Beiträge verdeutlichen eindrücklich die
Notwendigkeit der Anerkennung von Asexualität als sozialem Phänomen
und die sich aus der sozialen (meint: bis dato spärlich
vorhandenen) Positionierung ergebenden eklatanten Forschungslücke
zu Asexualität. Jens Borchert, Heino Stöver und Torsten Klemm
stecken im Band das Forschungsfeld um Sexualität im Gefängnis ab.
Der Beitrag von Klemm ist hier hervorzuheben für den Bericht über
die empirischen Ergebnisse einer von ihm durchgeführten Befragung
von Sexualstraftätern – ein wichtiger Beitrag zur realistischen und
besonnenen Auseinandersetzung mit diesem Thema.
Katja Krolzik-Matthei eröffnet den dritten und letzten Teil des
Sammelbandes mit einer Untersuchung des Selbstbestimmungsbegriffes
in der Abtreibungsdebatte. Sie kommt zu dem Ergebnis, dass »eine
feministische Perspektive keine andere als die der ungewollt
Schwangeren sein« kann und mahnt zur Reflexion des
Selbstbestimmungsbegriffs, um einem neu-rechten politischen
Spektrum »konsequent begegne[n]« zu können. Alina Mertens
dokumentiert den Umgang mit reproduktiven Rechten von Menschen mit
Behinderungen, der insbesondere auch durch deren
selbstorganisierten Einsatz positive Entwicklungen hin zu mehr
reproduktiver Selbstbestimmung verändert hat. Marlen Weller-Menzel
setzt sich abschließend mit der »Reproduktion außerhalb des
heteronormativen Kontextes« (S. 333) auseinander. Ihr Beitrag ist
eine strukturierte Entgegnung auf gängige Vorurteile und blinde
Flecken in der Diskussion um so genannte »Regenbogenfamilien« und
kann nicht zuletzt als gelungene Argumentationshilfe in
Auseinandersetzungen mit heteronormativen Positionen gelesen
werden.
Diskussion
Alle Autor_innen des Sammelbands sind (auch) praktisch pädagogisch
und/oder politisch engagierende Menschen, woraus sich die hohe
Attraktivität des Bandes für wissenschaftliche Auseinandersetzungen
ergibt. Er legt Perspektiven insbesondere aus der (theoretisch und
historisch informierten) Praxis offen, die sowohl wieder in der
Praxis reflektiert als vor allem aber theoretisch eingeholt werden
müss(t)en, »da praktisch viele Entwicklungen längst vollzogen sind,
bevor sie in der theoretischen Reflexion ankommen« (S. 15).
Statt beispielsweise Geschlecht und (Hetero)Sexualität als
untrennbar miteinander verbunden oder Reproduktion/Fortpflanzung
als wesentlichen Teil von Sexualität zu denken (vgl. S. 9), werden
in dem besprochenen Sammelband Machtstrukturen des normativen
Verständnisses dieser Kategorien offengelegt (wer kann welche Art
der Selbstbestimmung wie einfordern und wird gehört), indem die
Phänomene in ihrer jeweiligen Darstellung bereits diese normative
Verquickung in Frage stellen. Mit den Beiträgen werden Positionen
sichtbar gemacht, die gerade an den Grenzen der Selbstbestimmung
agieren und so die gesellschaftlich-normative Verhaftung dieses
Konzepts sicht- und streitbar machen. Es wird empirisch deutlich,
dass für einen theoretisch wie praktisch angemessenen Umgang der
Selbstbestimmungsbegriff jeweils im Kontext reflektiert werden
muss, um gesellschaftliche Ausschlüsse und Normierungen sichtbar zu
machen.
Fazit
Die Artikel des Bandes – auch jene, die hier unbesprochen bleiben
mussten – (re)präsentieren Stimmen auch aktuell mindestens
unsichtbar gemachter, schlimmstenfalls nach normativen Maßgaben
disziplinierter und zugerichteter Menschen. Jeder forschenden
Person, die sich den verhandelten Phänomenen nähern möchte, sei der
Sammelband als erste Orientierung, als Einstieg in die notwendige
empirische Auseinandersetzung, unbedingt nahegelegt.
Zitiervorschlag
Anja Gregor. Rezension vom 09.06.2016 zu: Michaela Katzer,
Heinz-Jürgen Voß (Hrsg.): Geschlechtliche, sexuelle und
reproduktive Selbstbestimmung. Praxisorientierte Zugänge.
Psychosozial-Verlag (Gießen) 2016. ISBN 978-3-8379-2546-3. In:
socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245,
http://www.socialnet.de/rezensionen/20606.php, Datum des Zugriffs
30.11.2016.
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