Rezension zu Die enthemmte Mitte
Bulletin-Info Nr. 53 des Zentrums für transdisziplinäre Geschlechterstudien / Oktober 2016
Rezension von Andreas Heilmann
Decker, Oliver/Kiess, Johannes/Brähler, Elmar (Hg.): Die enthemmte
Mitte. Autoritäre und rechtsextreme Einstellungen in
Deutschland
Am 15. Juni 2016 stellten Prof. Dr. Elmar Brähler und PD Dr.
Oliver Decker von der Uni Leipzig ihre Studie »Die enthemmte Mitte.
Autoritäre und rechtsextreme Einstellungen in Deutschland« vor.
Die Leipziger »Mitte«-Studie wird seit 2002 alle zwei Jahre als
repräsentative Einstellungsuntersuchung erhoben. Sie erlaubt
Längsschnittanalysen der Entwicklung rechtsextremer Einstellungen
(nicht des Verhaltens!) in Deutschland und milieubezogene
Korrelationen. Die Wissenschaftler*innen befragten bundesweit 2.420
Menschen zu den Themen Befürwortung einer rechtsautoritären
Diktatur, Ausländerfeindlichkeit, Antisemitismus,
Sozialdarwinismus, Chauvinismus und Verharmlosung des
Nationalsozialismus.
Die Ergebnisse zusammengefasst: Autoritäre und rechtsextreme
Einstellungen sind in Deutschland weiterhin kein Randphänomen,
sondern durchziehen die so genannte gesellschaftliche Mitte (daher
der Titel der Studie in Anführungszeichen). So bewegt sich die
Ausländerfeindlichkeit in Deutschland seit Jahrzehnten auf hohem
und stabilem Niveau bei etwa 25-30%. Sie hat − entgegen der
Erwartung − im Zuge der aktuellen Flüchtlingswelle nicht
zugenommen. Gleichwohl hat die Gewaltbereitschaft jener Milieus,
die hohe Werte an Ausländerfeindlichkeit aufweisen, deutlich
zugenommen. Bisher bevorzugten Menschen mit rechtsextremem Denken
meist die etablierten Parteien von CDU/CSU bis LINKE, so dass sie
in der Masse der Parteigänger*innen »neutralisiert« wurden.
Neuerdings haben sie wie auch viele Nichtwähler*innen in AfD und
Pegida, die rechtsextrem Gestimmte wie ein Magnet sammeln,
politische Ausdrucksformen gefunden. Als Gegenbewegung ist jedoch
auch eine Zunahme der so genannten demokratischen Milieus und ihres
Vertrauens in die demokratischen Institutionen zu verzeichnen.
Insgesamt hat eine deutliche Polarisierung und Radikalisierung
stattgefunden.
Signifikant zugenommen hat seit der letzten Erhebung 2014 die
gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit in Bezug auf Muslime,
Asylbewerber, Sinti und Roma sowie Homosexuelle. Homophobie wurde
in der Leipziger Studie erstmals erfasst und weist im Vergleich mit
den Werten der Langzeitstudien des Bielefelder Teams um Wilhelm
Heitmeyer 2009-2014 (»Deutsche Zustände«) einen Sprung von 20% auf
40% auf (Einstellung zur Aussage: »Es ist ekelhaft, wenn
Homosexuelle sich in der Öffentlichkeit küssen.«). Beide
Erhebungen sind jedoch nur eingeschränkt zu vergleichen, da
Heitmeyer mit Telefonbefragungen arbeitet und die Leipziger mit
Face-to-Face-Befragungen.
Sexismus wurde anhand von vier Items entlang der zwei Dimensionen
»klassischer« und »moderner« Sexismus abgefragt. Diese Einteilung
folgt der Konzeption von Kirsten Endrikat aus den
Heitmeyer-Studien. Während »klassischer« Sexismus traditionelle
Geschlechterrollen und Geschlechterhierarchien biologistisch
begründet, ist für den »modernen« Sexismus die Leugnung weiterhin
bestehender Geschlechterdiskriminierung (und in der Konsequenz
auch: die Ablehnung von Gleichstellungspolitik und
ungleichheitsbezogener Gender-Forschung) charakteristisch.
Unterscheidet man nach diesen Dimensionen, zeigt sich einerseits
eine deutlich überwiegende Ablehnung des »klassischen« Sexismus,
andererseits »dass etwa die Hälfte der Befragten die
Diskriminierung von Frauen in der Gesellschaft nicht zur Kenntnis
nimmt. Der moderne Sexismus ist demnach weitaus häufiger als der
traditionelle Sexismus, den nur etwa jeder Fünfte vertritt«
(Decker/Kiess/Brähler: Die enthemmte Mitte, S. 58).
Mit nur zwei Items je Sexismus-Dimension ist dieses Thema in der
Erhebung jedoch ziemlich schmal erfasst. Zum Antifeminismus und
Familismus der neuen Rechten blieb Elmar Brähler auf Nachfrage
relativ vage. Diesen Themen kommt jedoch zunehmend die strategische
Funktion eines Scharniers zu, das unterschiedliche parteipolitische
Spektren von »konservativ« bis rechtsextrem verbindet.16 Akteure
der neuen Rechten bauen sie aktuell zu einem zentralen politischen
Issue aus. Antifeministische und familistische Einstellungen
sollten daher in künftigen Erhebungen zu autoritären und
rechtsextremen Einstellungen explizit und differenzierter erfasst
werden.
Zu den Ergebnissen der Leipziger »Mitte«-Studie, Zusammenfassungen
und Kommentare finden sich bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung
pdf-Downloads unter: http://www.rosalux.de/publication/42412