Rezension zu Erlösung durch Vernichtung
Schweizer Archiv für Neurologie und Psychiatrie 157:5 (2006)
Rezension von E. Hurwitz
Ein Buch zur Psychoanalyse des christlichen Antisemitismus –
erschienen im Jahre 2004 – wirft Fragen auf. Kaum ein Thema ist in
den letzten Jahrzehnten so intensiv bearbeitet und untersucht
worden, und zu kaum einem Thema gibt es gerade auch von
psychoanalytischer Seite derart zahlreiche Publikationen wie zum
Antisemitismus und zum christlichen Antijudaismus. Die Frage stellt
sich also, warum es der Autor verfasst und was er uns heute Neues
zu sagen hat.
Um es gleich vorwegzunehmen: Das Buch ist recht heterogen. Es
besteht aus fünf Kapiteln. Zwei davon sind überarbeitete Fassungen
früherer Publikationen. Im letzten Kapitel referiert der Autor
Sartres Schrift »Die Kindheit eines Chefs«, der zum Antisemiten
wird, im zweitletzten setzt er sich mit einer Schrift des
Soziologen und Psychoanalytikers Franz Maciejewski »Freud,
Beschneidung und Monotheismus« (2002) auseinander.
Im ersten Kapitel gibt er eine Übersicht über alle antijüdischen
Textstellen im Kanon des Neuen Testaments. Ich bin mit dem Autor
einig, dass die apologetische Deutung, es habe sich bei diesen
antijüdischen Ausfällen lediglich um Zitate aus innerjüdischen
Polemiken gehandelt, nicht gelten kann. Der christliche
Antijudaismus beginnt wirklich mit den Evangelien, setzt sich fort
über die Offenbarung des Johannes zur Apostelgeschichte und zu
Paulus. Logischerweise lehnt der Autor (auch darin gehe ich mit ihm
einig) die Differenzierung in einen christlichen Antijudaismus und
einen späteren, scheinbar wissenschaftlichen, etwa rassistisch
begründeten Antisemitismus ab. Nur: Dies alles ist nicht neu und
auch insofern problematisch, als der Autor, der – wie er anmerkt –
»weder über eine theologische noch über eine altphilologische
Ausbildung verfüge« (und sich deshalb konsequent an die Luthersche
Bibelübersetzung hält), in diesem ersten Kapitel dann doch mehr
Theologie als Psychoanalyse abhandelt. Etwas enttäuscht hätte ich
als normaler Leser hier das Buch vermutlich beiseite gelegt. Als
disziplinierter Rezensent las ich weiter. Es hat sich gelohnt.
Originellere Gedankengänge finden sich dann nämlich im zweiten und
dritten Kapitel. Dort geht es Hegener vor allem um die Spannung
zwischen Gesetz und Glaube, einem zentralen Konfliktpunkt zwischen
Judentum und Christentum. Was der Autor hier zum Thema
Beschneidung, Filiation und Generationenfolge sagt, war mir in
dieser Form neu. Im Judentum verhindere das Gesetz (gerade etwa der
Beschneidung) sowohl den ödipalen Inzest als auch den Vatermord.
Die christliche Entwertung des Judentums mit dem Vorwurf des
Legalismus findet der Autor vollkommen unberechtigt. Hingegen
bestehe beim Christentum, bei dem allein der Glaube wichtig ist,
die Gefahr, dass dies narzisstischen Verschmelzungsphantasien
Vorschub leistet. Die Verhinderung solch narzisstischer
Verschmelzungsphantasien mit der paradiesischen Mutter löst aber
narzisstische Wut aus, die sich dann gegen deren Verhinderer, eben
die Juden, richtet. Als Ausdruck dieser narzisstischen Wut sei dann
auch der abwertende Vorwurf, im Judentum gehe es «nur» um das
Gesetz, zu verstehen.
Hegeners Sprache ist sehr eingängig, er vermeidet unverständlichen
Fachjargon, die Lektüre ist spannend, sein Denken bewegt sich frei
assoziativ zwischen den verschiedensten – psychologischen,
psychoanalytischen, soziologischen und theologischen – Bezügen. Das
wirkt zwar sehr analytisch, manchmal aber etwas verwirrend und
verleiht der Argumentation nicht selten den Charakter des etwas
Zufälligen. In seinem Beitrag im Novemberheft 2005 der »Psyche«
(»100 Jahre Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie«) pflegt er eine
sehr viel einheitlichere und kohärentere Sprache. Hier bewegt er
sich schliesslich auch auf rein psychoanalytischem Terrain und
nicht wie beim vorliegenden Buch über den Antijudaismus in einem
Grenzgebiet.
Das Buch ist lesenwert und bietet allen, die sich mit dem Thema
auseinandersetzen wollen oder dies schon getan haben, wertvolle und
originelle Einsichten.