Rezension zu Jacques Lacan trifft Alfred Lorenzer (PDF-E-Book)
Luzifer-Amor (Heft 58, 2/2016)
Rezension von Stefan Köchel
Robert Heim, Emilio Modena (Hg.): Jacques Lacan trifft Alfred
Lorenzer
In den 1970er Jahren hatte Alfred Lorenzer damit begonnen, die
Auseinandersetzung mit Jacques Lacan zu suchen. Ob Lacan selbst
hierzu jemals Stellung beziehungsweise überhaupt hiervon Notiz
genommen hat, ist bis dato nicht überliefert. Anderen sollte es
obliegen, nachträglich stellvertretend den Versuch zu unternehmen,
»die zwei letzten großen Sprachtheoretiker der Freud’schen
Psychoanalyse miteinander ins Gespräch zu bringen« (S. 7). Der im
Januar 2016 von Robert Heim und Emilio Modena herausgegebene
Tagungsband »Jacques Lacan trifft Alfred Lorenzer. Über das
Unbewusste und die Sprache, den Trieb und das Begehren« versammelt
neben einem »Vorwort« Modenas sieben profunde Aufsätze zum Thema.
Dabei lässt die Dramaturgie des avisierten Gesprächs eine Art
Dreischritt aus separierten theoretischen Grundlagen, Kritik und
vorbereitenden Maßnahmen zur Dekonstruktion erkennen, auch wenn
besagte Dramaturgie de facto nicht exakt der inhaltlichen
Chronologie des Tagungsbandes entspricht.
Peter Widmer beschäftigt sich ausschließlich mit dem Lacan’schen
»Sprachspiel als Diskurs. Lacans Algebra der Psychoanalyse«. Über
Exkurse zu Descartes und Hegel erläutert der Autor das formale
»Primat des Signifikanten«, die unbewussten Manifestationen in
Metonymie und Metapher und rekonstruiert die vier respektive fünf
Diskurstypen Lacans, die dieser im Zuge seiner späten Seminare
differenziert hatte. Indes sind es im Folgenden weniger die Namen
Descartes und Hegel, die in den Mittelpunkt des theoretischen oder
praktischen Interesses rücken, sondern Goethes
»Wahlverwandtschaften«. »Es sind die Namen«, so Marianne Schuller
in ihrem Beitrag über Goethes »bestes Buch«, »in denen das
Bauprinzip des Romans versteckt ist und zugleich zur Dechiffrierung
auffordert« (S. 70). Und dieses Bauprinzip, welches den
Protagonisten, den Subjekten schicksalhaft eingeschrieben
verbleibt, sei nun einmal mehr kein anderes als die »Suprematie des
Signifikanten« nach Lacan. »Sofern der Roman den Mangel entbindet,
ohne den das differenzielle Spiel der Signifikanten, ohne den
Bedeutung und Welterfahrung nicht wären, lenkt er uns auf das, was
dem Subjekt fehlt« (S. 75).
Doch was bedeutet eine eben solche Lenkung nunmehr für den
weiteren Verlauf der Interpretation? Ließe sie sich unmittelbar an
diesem Punkt, an dem Schuller ihre Analyse abbricht, gar aus der
tiefenhermeneutischen Perspektive eines Alfred Lorenzer fortsetzen?
Ulrike Prokop beantwortet in ihrem anschließenden Beitrag diese
Frage nicht explizit, konstatiert indes gleich eingangs: »Es geht
um die Irritation als Zugang zum Doppelsinn des Textes; so wie um
die Bestimmung der Relevanz von Irritationen durch den Nachweis von
Wiederholungen und Analogien. Weiter geht es um die Referenz des
Textes« (S. 77). Das Prinzip der gleichschwebenden Aufmerksamkeit
in der analytischen Situation vorangestellt, arbeitet sich Prokop
durch den manifesten zum latenten Textsinn der
Wahlverwandtschaften, den sie schließlich mit Berufung auf
Lorenzer, wenn auch ohne Zitat, als ein »Vexierbild im Manifesten«
deutet. Von hier aus gelingt denn auch die entsprechende
Rekonstruktion des Romans als eine Theorie des Begehrens nach
Lorenzer.
Bemerkenswert kontrastierende Bedenken bezüglich einer allzu
reibungslosen Versöhnung der beiden »Großmeister«
psychoanalytischer Theorie äußern indes Hans-Dieter König,
Thierry Simonelli und André Michels in ihren jeweiligen
Beiträgen. Konkret handelt es si dabei um Vorwürfe unlauterer
Ontologisierungen, zweimal aufseiten Lacans im Sinne einer
»sprachfetischistischen« (Simonelli), »mystifizierten« (König)
Konzeption des Spiegelstadiums respektive Ödipuskomplexes; ein
andermal aufseiten Lorenzers in Gestalt von dessen Annahme einer
vorsprachlichen Symbolbildung des Kindes (Michels). Dennoch möchte
immerhin Michels beschließend an der Vorstellung festhalten, die de
facto nicht stattgefundene Begegnung nachträglich kritisch in ein
Gespräch zu überführen, indem wir von nun an damit beginnen
mögen, »Lacan und Lorenzer nicht nur auf ihren manifesten Text hin
zu untersuchen, sondern in ihrer Stellvertreterfunktion für ein
konstitutives Moment des psychoanalytischen Diskurses zu verstehen,
in dessen Nachfolge wir getreten sind, zu treten haben, um die
nächsten Schritte zu ermöglichen« (S. 128).
Allein die Stellvertreterfunktion als Stellvertreterfunktion
bedeutete den Fortschritt von der Anpreisung zur Preisgabe, d. h.
Solidarität. Eine ungewisse Zeit. Lorenzer und Lacan würden, wie
es schließlich Robert Heim mit seinem »Encore« betitelten Beitrag
und also ineins stellvertretend für den Tagungsband tatsächlich
zu beanspruchen wagt, noch einmal agalmata der Übertragungsliebe,
charismatische Objekte des Begehrens gewesen sein, und dies aber
bedeutete: agalmata (in der) Psychoanalyse: »Kritik der
psychoanalytischen Vernunft in der Vielfalt ihrer Stimmen« (S.
174). Harrend ihrer luziden Momente. Was einzig bleibt, ist
Dankbarkeit. Und ein angemessener Preis von 24,90 Euro.
Stefan Köchel (Graz)