Rezension zu Gesamtausgabe (SFG), Band 5
Luzifer-Amor. Zeitschrift zur Geschichte der Psychoanalyse, Heft 57, 1/2016
Rezension von Ernst Falzeder
Es gibt also tatsächlich noch einen unbekannten Freud – hier ist
er, vor allem in den ersten drei Bänden. Zusammen mit den
sukzessiv erscheinenden vollständigen Brautbriefen ergeben sie,
wenn schon kein völlig neues Bild von Freud, so doch eines, das
die traditionelle Sicht, die diese Periode etwas abschätzig als
»vor-analytisch« bezeichnet (und nicht etwa die spätere als
»post-neurologisch«), wohltuend wieder zurechtrückt. Natürlich
waren alle diese früheren Texte bereits auf die eine oder andere
Art zugänglich, 2011 waren auch viele von ihnen auf der CD Freud
im Kontext erschienen, und manche Freud-Forscher mögen sich in oft
jahrelanger Suche Kopien aus Bibliotheken, antiquarische Ausgaben
u. ä. verschafft haben. Einzelne bedeutende Monographien, wie die
Aphasie-Studie, sind in kommentierten Einzelausgaben neu aufgelegt
worden. Aber Hand aufs Herz: Nur wenige haben sich wohl wirklich
die Mühe gemacht, all diese verstreuten Arbeiten, darunter über
200 (!) Buchrezensionen, systematisch und chronologisch
durchzuarbeiten. Erst in dieser geballten Zusammenstellung der
neurologischen Schriften, die in Quantität und Qualität ohne
weiteres dem gesamten Lebenswerk anderer Forscher gleichkommen und
allein Freuds Ruhm als bedeutender Wissenschaftler begründet
hätten, ergibt sich auf den ersten Blick, wie sehr Freud eben kein
gelernter Psychologe war und wie tief er in der damaligen
Neurologie und Neuropathologie verwurzelt war. Er hat diese Wurzeln
in seiner »postneurologischen« Zeit nie geleugnet, und man wird die
Verbindungen zwischen ihnen jetzt auch besser studieren können.
Geradezu spannend ist es dann, im 4. Band, der die Jahre 1892–1894
umfasst, die allmähliche Hinwendung zur psychologischen
Neurosenforschung und -therapie zu verfolgen, beginnend mit einem
ersten »Fall von hypnotischer Heilung«, bei dem es sich vielleicht
um niemand anderen als um Freuds Frau Martha handelt. [1]
Es ist nicht möglich, in dieser kurzen Rezension näher auf den
Inhalt der vier ersten Bände mit insgesamt fast 1800 Seiten
einzugehen. Genüge es zu sagen, dass es immer ein Genuss ist,
Freud zu lesen, und dass bereits in den frühesten Arbeiten der
spätere große Stilist und Schriftsteller durchblitzt, auch wenn er
sich noch öfter hinter trockenen Abhandlungen, Referaten,
Literaturübersichten, Methodenbeschreibungen u. ä. versteckt. Im
eben erwähnten Fall von hypnotischer Heilung fragt er etwa, was
bei Hysterikerinnen aus »gehemmten Vorsätzen« werde, und meint,
»dass sie aufbewahrt werden, in einer Art von Schattenreich eine
ungeahnte Existenz fristen, bis sie als Spuk hervortreten und sich
des Körpers bemächtigen« (Bd. 4, S. 260 f.). Ist das nicht eine
nahezu poetische Formulierung?
Ebenso sehen wir aber auch immer wieder Freuds Neigung zu kühnen
Generalisierungen und voreiligen Schlüssen, nicht nur in der
bekannten Empfehlung von Kokain für die Morphin- und
Alkoholentwöhnung, bei der Freud »unbedenklich dazu rathen
[würde], in [...] Entziehungscuren Cocain in subcutanen
Injectionen von 0.03-0.05 gr. pro dosi zu geben und sich vor der
Häufung der Dosen nicht zu scheuen« (Bd. 1, S. 391 f.). Auch in
dem meisterhaften Vortrag über Hypnose von 1891, den er selbst
»sehr gut« fand (Bd. 3, S. 377), behauptet er etwa, dass »[a]lles,
was über die grossen Gefahren der H. gesagt und geschrieben wurde,
[...] in’s Reich der Fabel« gehöre (S. 388).
Zur Edition: Der Herausgeber Christfried Tögel, ein ausgewiesener
Fachmann, hat Urban Zerfaß als Mitarbeiter gewonnen, der sich als
spezialisierter Buchhändler und Antiquar ebenfalls ein umfassendes
Fachwissen erworben hat. Die Sigmund-Freud-Gesamtausgabe (SFG) will
erstmals alle von Freud zur Veröffentlichung bestimmten Schriften
in chronologischer Reihenfolge vorlegen. Die geplanten 23 Bände
werden zusätzlich Vortragszusammenfassungen, Interviews, von Freud
selbst geführte Chroniken und Kalender, ein »Freud-Diarium«, das
datierbare Ereignisse aus Freuds Leben auflistet, sowie ein
Gesamtregister enthalten. Eine Besonderheit ist, dass die Texte
nach der Erstveröffentlichung und in der Originalorthographie
wiedergegeben werden (die Seitenzahlen der Erstausgabe werden an
den entsprechenden Stellen im Text eingefügt), was bedeutet, dass
man die »Urversionen« z. B. der »Traumdeutung« oder der »Drei
Abhandlungen« wird lesen können, ohne sie mühsam hinter den
zahlreichen späteren Zusätzen und Fußnoten rekonstruieren zu
müssen. Wie kommt man aber dann an die späteren Ausgaben? Der
praktischen und kaufmännischen Unmöglichkeit, alle abweichenden
Auflagen getrennt ebenfalls nachzudrucken, begegnet der Verlag mit
der Lösung, diese den LeserInnen digital zur Verfügung zu
stellen. Im Übrigen betrifft dieses Problem nur einige der
psychoanalytischen Bücher, deren Fassungen letzter Hand man auch
bequem in anderen Ausgaben nachlesen kann.
Ein eindeutiger Vorzug der SFG ist es, Lücken in den bisherigen
Werkausgaben zu schließen. Sie bietet insgesamt 563 Arbeiten Freuds
(zum Vergleich: die »Gesammelten Werke« 258, die CD »Freud im
Kontext« 374). Die bereits vorliegenden Bände 3 und 4 enthalten
auch lose beigegebene tabellarische Zusammenstellungen von
klinischen Beobachtungen Freuds. Die SFG ist jedoch ausdrücklich
keine historisch-kritische Ausgabe und will einer solchen laut
Waschzettel »in keiner Weise [...] vorgreifen«. Sie enthält also –
mit Ausnahme kurzer Einführungen zu den Texten – (fast) keine
Anmerkungen, Erklärungen oder andere zusätzliche, etwa
biographische oder bibliographische Angaben. Es ist zu hoffen, dass
das Wiener Projekt »Sigmund Freud. Digitale Edition« (siehe www.
freud-edition.net), bei dem ich am Rande mithelfen darf, diese
Lücke schließen und dann auch alle erhaltenen Briefe Freuds
vorlegen wird. Bis es allerdings dahin kommt, bin ich zumindest
sehr froh, eine laufend erscheinende Gesamtausgabe aller
Veröffentlichungen Freuds zu erhalten, und es ist dem Herausgeber
und dem Verlag zu danken, dass sie dieses Wagnis auf sich genommen
haben.
Bei einem derart groß angelegten Projekt sind kleinere Fehler
wahrscheinlich nie zu vermeiden; und man wird es auch nicht allen
potentiellen LeserInnen recht machen können, etwa bei der
Grundsatzentscheidung: Druck- oder Digitalausgabe. Abgesehen von
persönlichen Vorlieben, die bei mir eindeutig in Richtung Buch
gehen, haben beide Vor- und Nachteile. Bei einer ersten, noch
keineswegs systematischen Lektüre habe ich doch eine Reihe von
Druckfehlern gefunden, die nun für lange, wenn nicht für immer
stehenbleiben werden. Ein zugegebenermaßen subjektiver Eindruck
ist, dass ich die gewählte Schrifttype, mit ihren Oberlängen,
etwas mühsam zu lesen finde, auch wenn sie schön ausschaut und
eine »historische« Anmutung hat. Man könnte auch diskutieren, ob
man auf die sehr kurzen Einführungstexte nicht überhaupt hätte
verzichten oder aber sie ausführlicher hätte machen können. Aber
wie gesagt, das sind Ansichtssachen und »peanuts« gegenüber der
Freude, die ersten vier sehr schön gemachten, auch buchbinderisch
hervorragenden Bände (Leinen mit Schutzumschlag, Fadenheftung,
Lesebändchen, Kapitalband etc.) in der Hand zu halten, und der
Aussicht, in einem doch überschaubaren Zeitraum das gesamte
veröffentlichte Werk Sigmund Freuds zu bekommen. Die SFG soll bis
spätestens 2021 vollständig vorliegen.
[1] So Goldmann, S. (2014): Ein Fall von hypnotischer Heilung in
Sigmund Freuds Privatpraxis. psychosozial, 37 (2): 127–139;
Borch-Jacobsen, M. in: Freud, S. (2015): L’hypnose. Textes –
1886/1893. Paris (L’Iconoclaste), S. 381. Andere Forscher (R.
Skues, A. Stadlen, P. Swales) bestreiten diese Identifizierung
(Borch-Jacobsen, persönl. Mitteilung).