Rezension zu Moderne Gruppenanalyse

Gruppenanalyse 15.Jg. (2005) Heft 2

Rezension von Angela Schmidt-Bernhardt

Der vorliegende Band verdient aus mehreren Gründen Beachtung. Zum einen baut er in Form einer Aufsatzsammlung Brücken zwischen den in der Tradition von S. H. Foulkes stehenden modernen Gruppenanalytikern im englischen und im deutschen Sprachraum. Zum anderen gibt er einen Einblick in die dynamischen Entwicklungsprozesse, in denen sich die gruppenanalytische Theorie und Praxis aktuell befinden. Die Herausgeber legen einen Schwerpunkt auf die Darstellung der vielfältigen Vernetzungen, die in den letzten Jahren zwischen der Gruppenanalyse auf der einen Seite und den modernen Erkenntnissen aus Psychotraumatologie, Säuglingsforschung, Bindungstheorie und Neurobiologie auf der anderen Seite geknüpft wurden. Und schließlich wird bei der Lektüre dieses Sammelbandes deutlich, inwieweit die Weiterentwicklungen innerhalb der Psychoanalyse, insbesondere die Selbstpsychologie, die relationale Psychoanalyse und die Objektbeziehungstheorie, auch zu einer Weiterentwicklung der Gruppenanalyse beigetragen haben. Das Buch gliedert sich in die drei Teile »Theorie«, »Praxis« und »Spezielle Anwendungsgebiete«.

Der erste Teil enthält Beiträge von Malcolm Pines, Farhad Dalal, Michael Hayne und Mario Marrone. Pines skizziert die Entwicklung der Gruppenanalyse in ihren Bezügen zur Säuglingsforschung, zur Affekttheorie und zur Neurobiologic. So erläutert er beispielsweise, inwieweit die neueren Erkenntnisse der Neurobiologie Hinweise darauf geben, daß in der menschlichen Gehirnstruktur Neuronen angesiedelt sind, die auf Interaktionsprozesse spezialisiert sind und eine Basis für Spiegelungsprozesse bilden. Entsprechend werden die neurologischen Netzwerke in ihrer frühen Entwicklung von den Beziehungen zwischen Säugling und Bezugsperson beeinflußt. Ein sozial unentwickeltes und nicht ausreichend stimuliertes Gehirn wird demnach ein Subjekt mit Defekten bei der Verarbeitung und Interpretation von emotionalen Botschaften ergehen. Für die gruppenanalytische Arbeit bedeutet dies, so Pines, eine Stärkung in der Oberzeugung, im gruppenanalytischen Setting sehr basale und frühe Ebenen der menschlichen Natur zu erreichen, weil die menschliche Entwicklung in so großem Maße sozial ist.

Mario Marrone liefert einen Überblick über die Bindungstheorie und stellt die Verbindung zur psychoanalytisch orientierten Gruppenpsychotherapie her. Die Bindungstheorie als eine intersubjektive Theorie verbindet die Subjektivität des Einzelnen mit der Interaktion mit einem bedeutsamen Anderen. Das Subjekt tritt in der Beziehung zum Anderen hervor und bildet durch den Kontakt mit anderen und durch die Erforschung der Gefühlszustände der anderen, das heißt heim Säugling, der Bezugspersonen, ein Bild von sich selbst heraus. Die Beziehung mit dem Anderen wird Teil der Struktur des Selbst und der Repräsentation von Beziehungen. Marrone legt überzeugend die gemeinsame Grundannahme von Gruppenanalyse und Bindungstheorie dar, daß jegliche menschliche Existenz eine gemeinschaftliche ist und der zwischenmenschliche Bereich dementsprechend etwas Primäres ist.

Michael Hayne befaßt sich in seinem Beitrag mit der »Bedeutung der psychoanalytischen Affekttheorie für die Gruppenanalyse« und bringt Beispiele für eine erfolgreiche Bearbeitung von affektiven Regressionen im gruppenanalytischen Setting.

Einen wegweisend neuen Aspekt bringt Farhad Dalal in seinem Beitrag »Macht, Scham und Zugehörigkeit: Eine radikale gruppenanalytische Theorie« in die theoretische Debatte, indem er sich mir der Bedeutung von Macht auseinandersetzt, eine Bedeutung, die von Freud und Foulkes verkannt wurde und von Elias als wesentliches Moment in interdependenten Beziehungen herausgestellt wurde.

Im zweiten Teil des Buches befassen sich mehrere Beiträge mit Vertretern der Selbstpsychologie in ihrer Bedeutung für die moderne Gruppenanalyse. Dieter Kunzke beleuchtet Lichtenbergs motivations-systemischen Ansatz als meta-psychologisches Modell der Psychoanalyse, das die Triebtheorie ablösen kann. Er erläutert die fünf basalen Motivationssysteme, die nach Lichtenberg das individuelle und das soziale Überleben gewährleisten, in ihrer Bedeutung für die gruppenanalytische Interaktion.

Weitere Beiträge (Rosemay Segalla; Franco Paparo / Gianni Nebbiosi) gehen auf Kohut ein und erörtern unter anderem die intersubjektive Perspektive in Kohuts Konzept der Empathie. Felix de Mendelssohn widmet sich der »Deutungstechnik in der psychoanalytischen Gruppe«; Jutta Menschik-Bendele behandelt die »Geschlechterdynamik in der Gruppenanalyse«, befaßt sich mit Fragen der Geschlechtsidentität und des Geschlechtsrollenerwerbs und sieht im gruppenanalytischen Prozeß die Chance, den Blick auf das eigene wie auf das andere Geschlecht zu intensivieren und damit zu einer »Erweiterung der Welt« zu gelangen.

Hilary Hall läßt die Leser an ihren Erfahrungen als Co-Therapeutin in einer gemeinsam mit ihrem Ehemann geleiteten Gruppe teilnehmen. Die Verwicklungen der beiden Therapeuten und die allmähliche Überwindung der Schwierigkeiten in der Gruppenleitung hin zu einer kreativen gemeinsamen Arbeit werden von ihr anschaulich geschildert.

Der dritte Teil des Sammelbandes enthält unter dem Titel »Spezielle Anwendungsgebiete« einen Beitrag von Josef Shaked über die »Zukunft der analytischen Großgruppe«, einen zur »gruppenanalytischen Psychotherapie mit Älteren« (Maria Canete / Fiona Stormont / Arturo Ezquerro), Werner Knauss Ausführungen zur »Gruppenanalyse in der stationären Therapie« sowie Beiträge zur gruppenanalytischen Therapie der Psychose (Maria Canete / Arturo Ezquerro) und zur psychoanalytisch-interaktionellen Gruppentherapie (Ulrich Streeck).

Damit ist das breite Spektrum umrissen, das dieser Band umfaßt, und in dem eine besondere Qualität des Buches zu sehen ist, denn die Vielfalt der Beiträge von der Auseinandersetzung mit den aktuellen theoretischen Debatten hin zu den verschiedenen Anwendungsfeldern läßt jeden und jede den eigenen Leseschwerpunkt entdecken. Für mich persönlich lag eine besondere Faszination bei der Lektüre in der Verknüpfung von sonst häufig unverbunden nebeneinander stehenden Erklärungsmodellen; eine Verknüpfung, wie sie beispielhaft zwischen Selbstpsychologie und Gruppenanalyse oder zwischen Bindungstheorie und Gruppenanalyse erfolgt.

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