Rezension zu Gesamtausgabe (SFG), Band 18

RISS. Zeitschrift für Psychoanalyse. Freud – Lacan I/2016

Rezension von Karl-Josef Pazzini

Die ersten Bände einer neuen Freud-Ausgabe halte ich als Leser Freuds und Psychoanalytiker in Händen. Wie bei Vielen, die sich intensiver mit Freuds Werken beschäftigen, sind da schon die »Gesammelten Werke«, die »Studienausgabe« (beide Fischer Verlag), einige versprengte Einzelausgaben (auch aus dem Fischer Verlag) und ein paar wenige Originalausgaben im Regal.

Nun sind die Schriften Freuds in der Originalausgabe zum Abdruck frei und können neu editiert werden. Diese Chance ergreifen Christfried Tögel, Freud-Biograph und Psychoanalysehistoriker, unter Mitarbeit von Urban Zerfaß, Buchhändler, Antiquar und profunder Kenner der Publikationsgeschichte der Psychoanalyse (er wird im Gegensatz zu Tögel nicht in der Sigmund-Freud-Gesamtausgabe vorgestellt), unter der Reihenherausgeberschaft (Bibliothek der Psychoanalyse) von Hans-Jürgen Wirth.

Den Editionsplan und das Konzept findet man unter http://www. Freud-biographik.de/sfg/ und http:www.freud-biographik.de/SFG%20U% 20Psychosozial.pdf. Auf den Verlagsseiten sind auch Inhaltsverzeichnisse und Leseproben zu finden.

Die Ausgabe liegt gut in der Hand in einem Umschlag mit Freuds faksimilierter Unterschrift um ein Hardcover mit Leinenüberzug. Die Bände enthalten jeweils eine Konkordanz von »SFG«, »Gesammelten Schriften«, »Gesammelten Werken«, »Studienausgabe« und der Freudbibliographie und Konkordanz von Meyer-Palmedo & Fichtner (1989),[1] bzw. Fichtner & Hirschmüller (2013),[2] ein Abbildungs- und Literaturverzeichnis, sehr nützliche Personen- und Sachregister.

Die knappen editorischen Einführungen vor jeder Freud’schen Arbeit ordnen diese wissenschaftsbiographisch ein, geben Hinweise auf das erste Erscheinen, inkludieren eine Abbildung des Bezugstextes bei Rezensionen und Übersetzungen Freuds oder einen Eindruck von der Erstpublikation. Die Einführungen sind in Futura gesetzt und unterscheiden sich von der Wiedergabe der Texte, die wahrscheinlich in »Lucian Bernhard« gesetzt sind, die eingefügten Originalseitenzahlen sind überdeutlich abgesetzt in fetten Futurazahlen. Die Zeilenabstände sind dabei eher modern, wenn man mit den Ausgaben aus dem »Internationalen Psychoanalytischen Verlag« vergleicht, von dem die Typographie übernommen wurde. Jeder Band hat ein Lesebändchen, einladend, aber für den, der wirklich damit arbeitet, müssten es wahrscheinlich über 10 Bändchen pro Band sein.

Der erste Band gibt Zeugnis von Freuds zoologischen und neurologischen Arbeiten, sieben an der Zahl und über 150 Rezensionen anderer wissenschaftlicher Arbeiten in drei Jahren (1883-1885). Die Rezensionen befassen sich mit dem weiten Feld der medizinischen Forschung und Behandlung und sind keineswegs ausschließlich auf Freuds Forschungsfeld beschränkt. Darunter auch eine Rezension von Charcot (1884) über hysterische Hemiplegie.

Der erste Band hat vor allem sein Verdienst darin, diese Schriften aufgefunden, zugeordnet und erstmals zusammengestellt zu haben.

Der zweite Band bringt einige neue zeitliche Zuordnungen und trägt den Forschungen zur Zuschreibung einzelner Artikel zur Autorschaft Freuds Rechnung. Er enthält neben neurologischen Artikeln acht Berichte auf Französisch für das »Bulletin médical« aus der »k.k. Wiener Gesellschaft für Medizin« und wiederum über auf drei Jahre verteilt knapp 60 Rezensionen, die sich mehr und mehr auf neurologische Publikationen beziehen. Ferner die Beiträge zu »Villarets Handwörterbuch der gesamten Medizin«.

Der dritte Band enthält die Arbeit zu den »Aphasien« gemeinsam mit Rie publiziert (1891) und die Studie über »Zerebrallähmung« (1891). Daneben weitere Einträge aus »Villarets Handbuch«. Anlässlich des Wiederabdrucks der Studie über »Cerebrallähmung« wird eine verschenkte Chance dieser Gesamtausgabe deutlich. Es heißt im kurzen Vorwort: »Freud und Rie haben in ihrer Studie Namen gelegentlich falsch geschrieben und Quellen nicht immer korrekt angegeben, da sie oft aus Sekundärliteratur übernommen haben. Das ist von uns nicht korrigiert worden« (S. 108). Hätte man da nicht, wenn es schon aufgefallen ist, eine Seite mit Hinweisen einfügen können? Und man kann noch weiter fragen: Wäre es nicht ein Chance gewesen, hier und da dem heutigem Leser Hinweise zur damaligen Diskussion zu geben, wenn sich die Herausgeber schon so intensiv mit dem historischen Umfeld befasst haben, vielleicht auch nur durch Verweise auf deren eigene Publikationen oder auf andere, um die Ausgabe nicht zu überlasten? Damit wäre ein wesentlicher Vorteil gegenüber den bisherigen Ausgaben zu erzielen gewesen.

Der vierte Band enthält wiederum zahlreiche Artikel Freuds, die bisher noch nicht in einer Werkausgabe publiziert wurden. Insbesondere etwa die Beiträge zu Bums »Diagnostischen Lexikon« für praktische Ärzte, wovon viele um die Diagnostik von Sprach-, aber auch Schreib- und Lesestörungen kreisen (S. 333ff).

Im Unterschied zur »Studienausgabe«, die die verschiedenen Auflagen Freud’scher Texte anmerkt und in den Text integriert, bietet die neue Ausgabe die pure Erstpublikation. Und darüber hinaus einige Schriften, die noch nie in einer Gesamtausgabe publiziert wurden, in den jetzt vorliegenden Bänden insbesondere solche, die der voranalytischen Zeit Freuds (1877-1893/94) zuzurechnen sind. Diese Etikettierung ist natürlich einer Auffassung von Psychoanalyse geschuldet, die die Suchbewegungen, die Wege der Neugier, der theoretischen und klinischen Unpässlichkeiten nicht zu deren Kern zählt. Kriterium der Aufnahme in die Gesamtausgabe ist Freuds Autorisierung der ersten Publikation.

Ich unterstelle, dass es Gründe gehabt haben wird, warum Freud überarbeitet hat. Insofern ist die vorliegende Ausgabe eine Regression. Das birgt aber die Möglichkeit, nun die Erstpublikation in den Fällen überarbeiteter Publikationen sinnfällig nebeneinander legen zu können.

Die Gesamtausgabe ist so angelegt, dass die »Bände 1 bis 20 die von Freud zur Veröffentlichung bestimmten Arbeiten in chronologischer Reihenfolge« enthalten. »Band 21 umfasst nicht oder posthum veröffentlichte Vortragstexte sowie Interviews. Band 22 beinhaltet ein Freud-Diarium, das Ereignisse seines Lebens auflistet; es wird durch von Freud selbst geführte Chroniken und Kalender eingeleitet. Band 23 enthält ein Gesamtregister aller Bände« (http://www.psychosozialverlag.de/2400).

Die vorliegende Ausgabe ist so eine Dokumentation aller Erstpublikationen der bisher bekannten Freud’schen Schriften. Die Zusammenstellung enthält zumindest in den ersten Bänden auch unbekannte Schriften. Sie geben Zeugnis vom breiten Interesse Freuds und dessen Lust an der wissenschaftlichen Auseinandersetzung und einer gewissen Aggressivität dabei. Sie sind damit Dokument der Vorgehensweise zu dem, was heute zur Freud’schen Psychoanalyse als Korpus zu gerinnen droht; es kann aber Anregung sein, sich breit wissenschaftlich und kulturell umzutun, um die Psychoanalyse weiterzuentwickeln. Die vorliegende Ausgabe braucht für das intensive Studium des Freud’schen Gestus in Forschung und Klinik als Widerpart auch die oft überarbeiteten Ausgaben, was allerdings für die ersten nun vorliegenden Bände noch keine große Rolle spielt.

[1] Ingeborg Meyer-Palmedo, Gerhard Fichtner: Freud-Bibliographie mit Werkkonkordanz (grundlegend rev. u. erw. Neuausg. Aufl.). Frankfurt a. M.: Fischer 1989.

[2] Ingeborg Meyer-Palmedo, Gerhard Fichtner (2013). »Freud-Bibliographie mit Werkkonkordanz. Ergänzungen zur zweiten Auflage von 1999«. http://www.iegm.uni-tuebingen.de/images/pdf/ freud_bibliographie_2013.pdf; 03.01.16.

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