Rezension zu Gesamtausgabe (SFG), Band 5
literaturkritik.de Nr. 5, Mai 2016
Rezension von Thomas Anz
Bleibt Freud schlechter ediert als Hitler oder Heidegger?
Zu den ersten Bänden der von Christfried Tögel herausgegebenen
Gesamtausgabe
Drei Personen und drei Ausgaben – ein fragwürdiger Vergleich?
Während die »kritische Edition« von Adolf Hitlers »Mein Kampf« nun
schon länger auf den ersten Plätzen der Spiegel-Bestsellerliste
steht und die weit fortgeschrittene »Gesamtausgabe« von Martin
Heideggers Werken seit dem Erscheinen der »Schwarzen Hefte« erneut
zu heftigen Debatten über den Philosophen geführt hat, finden die
ersten, seit einigen Monaten vorliegenden Bände von Sigmund Freuds
»Gesamtausgabe« bislang nur wenig Beachtung.
Auf der Homepage des Gießener Verlags steht unter »Rezensionen«
bisher lediglich eine Ankündigung im »Gießener Anzeiger«. Sie
beginnt mit den Sätzen: »Es ist nicht zu hoch gegriffen, von einer
Sensation zu sprechen. Denn der heimische Psychosozial-Verlag gibt
ab 2015 nicht nur die überhaupt erste Gesamtausgabe der Schriften
Sigmund Freuds in 23 Bänden heraus. Zum ersten Mal werden darin vor
allem auch die unbekannten voranalytischen Arbeiten des
Gründervaters der Psychoanalyse und eines der größten Denker des
20. Jahrhunderts gesammelt und öffentlich zugänglich gemacht.«
Eine »Sensation« ohne entsprechende Resonanz? Immerhin ist am
8.1.2016 eine Besprechung in der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung«
erschienen, und zwar von dem renommierten Wissenschaftshistoriker
Michael Hagner, aber die ist ziemlich negativ. Eine hymnische
Rezension des an der Sigmund Freud Privatuniversität in Wien
lehrenden Wissenschaftshistorikers und Psychoanalytikers Johannes
Reichmayr in der »Wiener Zeitung« vom 31.1.2016 eignet sich aus
einem anderen Grund nicht zur Präsentation auf der Verlagshomepage.
Sie wäre zu peinlich, weil Reichmayr selbst mehrfacher Autor des
Verlags und dem Herausgeber der Werkausgabe, Christfried Tögel,
unter anderem durch gemeinsame Publikationen verbunden ist. Seine
völlig unkritische Besprechung ist Musterbeispiel einer
»Gefälligkeitsrezension« und als solche allzu leicht zu
erkennen.
Hitler, Heidegger und Freud sowie die Ausgaben ihrer Werke zu
vergleichen, mag manchem deplatziert erscheinen, lässt sich aber
mit Hinweisen auf einige symptomatische Ähnlichkeiten und Kontraste
rechtfertigen. Heidegger, wie Hitler 1889 geboren, hat »Mein Kampf«
trotz einiger Vorbehalte mit großer Bewunderung gelesen. Das geht
aus dem seit November 2014 der Forschung im Deutschen
Literaturarchiv Marbach zugänglichen Briefwechsel zwischen Martin
Heidegger und seinem Bruder Fritz hervor. Die in Siegen lehrende
Philosophin und Heidegger-Forscherin Marion Heinz hat ihn
eingesehen, darüber 2015 unter dem Titel »Die geheimen Briefe« in
der Zeitschrift »Hohe Luft« (Heft 3/2015) einen Artikel
veröffentlicht und im März 2015 in einem Gespräch mit Thomas
Assheuer in der »Zeit« darüber informiert. Demnach legte Martin
Heidegger im Dezember 1931 »dem Bruder nahe, sich mit Hitlers Mein
Kampf auseinanderzusetzen«. Seine Empfehlung, so Marion Heinz
weiter, »wird begleitet von einer Einschätzung Hitlers, die überaus
positiv ist. Heidegger schätzt Hitler als die Person ein, die den
besten politischen Instinkt besitzt und der allein zuzutrauen ist,
das Abendland zu retten.«
Zitieren durfte die Wissenschaftlerin, wie sie erklärte, aus dem
Brief nicht. Dazu bedarf es einer Genehmigung der Erben. Kürzlich
erst, am 6. Mai 2016, hat das ein Artikel über Hitlers Buch von
Rainer Blasius in der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« nachgeholt.
Demnach schrieb Heidegger in dem Brief: »Ich wünsche sehr, dass Du
Dich mit dem Hitler-Buch, das in den selbstbiographischen
Anfangkapiteln schwach ist, auseinandersetztest. Dass dieser Mensch
einen ungewöhnlichen und sicheren Instinkt hat und eben schon
gehabt hat, wo wir alle noch benebelt waren, das darf kein
Einsichtiger mehr bestreiten.«
Bei allen fundamentalen Unterschieden bestehen weitere Affinität
zwischen dem Philosophen und dem Politiker zumindest in ihrem
Antisemitismus. Aber nicht nur damit sind sie Kontrastpersonen zu
Freud, der mit ihnen ansonsten vor allem eines gemeinsam hat: Wie
wenige andere prägte er das Denken des 20. Jahrhunderts und noch
darüber hinaus. Freud, vor nun 160 Jahren, am 6. Mai 1856 geboren,
war Sohn eines jüdischen Textilkaufmanns und seiner ebenfalls
jüdischer Ehefrau Amalia (geb. Nathanson). 1938, nach dem
»Anschluss« Österreichs an das Hitler-Deutschland, floh Freud mit
seiner Familie aus Wien nach London und starb am 23. September 1939
im Exil. Zwei Jahre später schrieb Heidegger den inzwischen oft
(und auch in »literaturkritik.de«) zitierten Satz : »Das
Weltjudentum, aufgestachelt durch die aus Deutschland
hinausgelassenen Emigranten, ist überall unfaßbar und braucht sich
bei aller Machtentfaltung nirgends an kriegerischen Handlungen zu
beteiligen, wogegen uns nur bleibt, das beste Blut der Besten des
eigenen Volkes zu opfern.«
Nicht nur mit seiner Lebensgeschichte kann Freud als eine
symbolische Kontrastfigur zu Heidegger und Hitler fungieren. Es gab
zwar etliche prominente Versuche, seine Psychoanalyse mit
Heideggers Existenzphilosophie kurzzuschließen, etwa in der
maßgeblich von Ludwig Binswanger geprägten »daseinsanalytischen«
Schule der Psychiatrie oder im frühen Werk Jaques Lacans, und
manchen Ähnlichkeiten in der Skepsis gegenüber einer technischen
Moderne, deren Naturbeherrschung ein beängstigendes Potential
erreichte. Aber anders als Heidegger, der die wissenschaftliche
Rationalität des 19. Jahrhunderts als einen Irrweg verabschiedete,
auf dem sich das „eigentliche Sein“ zunehmend verbirgt, blieb Freud
den Traditionen aufklärender Vernunft, nicht nur der
wissenschaftlichen, auch noch nach der psychoanalytischen Abkehr
von seinen neurophysiologischen Anfängen verbunden. Während
Heidegger raunend die »Seinsvergessenheit« der Moderne beschwor und
seine apokalyptischen Phantasien nicht zuletzt das »Weltjudentum«
dafür verantwortlich machten, beendete Freud 1929, wenige Jahre vor
Hitlers »Machtergreifung« seine Reflexionen über das »Unbehagen« in
der Kultur der Moderne mit den ungleich konkreteren und klareren
Sätzen:
»Die Schicksalsfrage der Menschenart scheint mir zu sein, ob und in
welchem Maße es ihrer Kulturentwicklung gelingen wird, der Störung
des Zusammenlebens durch den menschlichen Aggressions- und
Selbstvernichtungstrieb Herr zu werden. In diesem Bezug verdient
vielleicht gerade die gegenwärtige Zeit ein besonderes Interesse.
Die Menschen haben es jetzt in der Beherrschung der Naturkräfte
soweit gebracht, daß sie es mit deren Hilfe leicht haben, einander
bis auf den letzten Mann auszurotten.«
Und während 1933 in Paris in französischer, englischer und
deutscher Sprache Freuds Briefwechsel mit Albert Einstein zur Frage
»Warum Krieg?« erscheint, in dem er Einstein und sich selbst als
»Pazifisten« bezeichnet (beide waren es bereits im Ersten
Weltkrieg; vgl. die Wiederveröffentlichungen damaliger
Publikationen von Einstein in der Zeit und von Freud in
»literaturkritik.de«), übernimmt Heidegger als Kandidat der NSDAP
das Amt als Rektor der Freiburger Universität.
Wissenschaftliche Editionen von Werken, die das 20. Jahrhundert
geprägt haben, im Hinblick auf ihre Qualität und öffentliche
Resonanz zu vergleichen, kann auch heißen, sie als Symptome
unterschiedlicher Wertschätzungen oder Bedeutungszuweisungen zu
begreifen. Da gibt es schon zu denken, dass keine Ausgabe von
Freuds Werken mit so hohem Aufwand und wissenschaftlichem Anspruch
herausgegeben und kommentiert wurde wie jetzt Hitlers »Mein Kampf«.
Während die Editoren dieser Ausgabe ihr Vorgehen detailliert auf
fast 90 Seiten erläutern, erledigt das die neue »Gesamtausgabe«
Freuds auf vier Seiten und bleibt damit noch knapper als die
»Erläuterungen zur Edition«, mit denen 1969 die »Studienausgabe«
Freuds eingeleitet wurden.
Das soll hier nicht missverstanden werden als Kritik an der Edition
von Hitlers Kampfschrift. Der mit ihr verbundene Aufwand liefert
zweifellos einen erhellenden Beitrag dazu, die Vorgeschichte der
NS-Herrschaft besser zu verstehen. Aber der Vergleich mit alten und
neuen Editionen von Freuds Werken verweist noch einmal sehr
deutlich auf die bisherige Misere im wissenschaftlichen Umgang mit
ihnen. Die haben dieser Autor und sein Werk angesichts ihrer
Bedeutung und ihrer Bemühungen um eine aufgeklärte Humanisierung
unserer Kultur nicht verdient. Dabei stehen wie im Fall Hitlers so
auch im Fall Freuds der wissenschaftlichen Erschließung dieser
Werke keine gravierenden Hindernisse mehr im Wege. Die Rechte an
diesen Texten sind 70 Jahre nach dem Tod der Autoren frei
geworden.
Was das für die Wissenschaft bedeutet, lässt sich an dem
Gegenbeispiel Heidegger ablesen. Die Rechte an seinem Werk werden
erst 2046 frei. Wie es hier mit der »Freiheit der Forschung« steht,
hat die Heidegger-Forscherin Marion Heinz in dem bereits zitierten
Gespräch mit Thomas Assheuer beklagt: »Die Freiheit der Forschung
ist in diesem Fall privatrechtlich auf die Einsichtnahme
eingeschränkt. Die Publikation der Forschungsergebnisse dagegen
ist, sofern sie mit Belegen aus den Briefen versehen werden, auf
die Genehmigung der Familie angewiesen.« Für ein derart
restriktives Verhalten gebe es auch andere Beispiele, aber im »Fall
von Heidegger gibt es eine besondere Provokation: Die Forschung
bemüht sich seit Jahrzehnten, die Wahrheit über seinen Einsatz für
den Nationalsozialismus ans Licht zu bringen und damit die
Irreführungen der Öffentlichkeit durch Heidegger selbst
aufzudecken. Dass die Publikation solcher Ergebnisse durch die
Familie verhindert werden kann und auch – wie im Falle von Sidonie
Kellerers Forschungen über ›Die Zeit des Weltbildes‹ – verhindert
werden, das ist schwer erträglich.«
Trotz solcher Hindernisse ist die wissenschaftliche Edition von
Heideggers »Gesamtwerk« weit fortgeschritten. Sie umfasst geplante
102 Bände, der (zeitlich) erste erschien 1975, als der Philosoph
noch lebte. Die Ausgabe ist noch nicht abgeschlossen, unter anderen
fehlt der Band mit seinem Hauptwerk »Sein und Zeit«, aber die
meisten Bände liegen inzwischen vor. Warum dagegen erst jetzt das
Gesamtwerk Freuds zu erscheinen beginnt und welche Hindernisse die
bisherigen Editionen seiner Werke beeinträchtigten, ist eine
Geschichte für sich. Anna Freud, die Tochter, hat sie im Vorwort zu
den 1952 im Londoner Verlag Imago Publishing vollständig
vorliegenden und 1999 auch im Fischer Taschenbuch Verlag
erschienenen »Gesammelten Werken« in 18 Bänden skizziert, Ilse
Grubrich-Simitis in ihrer Einleitung zu dem 1987 erschienenen, von
Angela Richards herausgegebenen Nachtragsband fortgesetzt: Der
Internationale Psychoanalytische Verlag in Wien, der die ersten
»Gesammelten Schriften von Sigm. Freud« noch zu dessen Lebzeiten
publizierte, wurde im März 1938 von den Nationalsozialisten
liquidiert. Um einen Ersatz für die dabei in mehreren Tausend
Exemplaren eingestampfte Ausgabe zu schaffen, begann im Herbst 1938
in London die Arbeit an den »Gesammelten Werken«. Nach Kriegsbeginn
im September 1939 führte die Emigration von zwei Herausgebern
(Edward Bibring und Ernst Kris) in die USA sowie die chronische
Überlastung der Druckereien und Buchbinder zu erheblichen
Verzögerungen. Immerhin konnten Anfang 1940 zwei Bände erscheinen
und im Laufe des Krieges noch sechs weitere. Sieben Jahre nach
Kriegsende konnte die Ausgabe vorläufig abgeschlossen werden.
Wie Ilse Grubrich-Simitis in dem Nachtragsband zugesteht, war sie,
»was Textbestand und editorischen Apparat betraf«, der englischen
»Standard Edition of the Complete Psychological Works of Sigmund
Freud«, die 1956–1974 bei Hogarth Press in London erschien,
deutlich unterlegen. In England ging man mit den übersetzten Werken
Freuds professioneller um als in Deutschland mit den
deutschsprachigen Originalen. Der Herausgeber der Standard Edition,
James Strachey, erklärt Grubrich-Simitis,
»hatte, unterstützt vom Londoner Institut of Psycho-Analysis, in
jahrelanger Arbeit eine Freud-Editionskultur begründet, für die es
hierzulande keine Entsprechung gab. Vielmehr mußten die
Psychoanalytiker in der Bundesrepublik vordringlich darauf bedacht
sein, die vom Hitler-Regime zerschlagene Tradition der
Psychoanalyse wiederzubeleben und hinsichtlich Ausbildung und
Wissensstand die Verbindung zu den neuen, insbesondere
angloamerikanischen Zentren analytischer Forschung
aufzunehmen.«
Inzwischen hatte der aus der Emigration zurückgekehrte S. Fischer
Verlag 1960 die Rechte an Freuds Werk von dessen Londoner
Exilverlag Imago Publishing Company übernommen, suchte zur
Vervollständigung der »Gesammelten Werke« Hilfe bei James Strachey
und seiner engsten Mitarbeiterin Angela Richards. Vor allem sie
half dann auch als Mitherausgeberin (zusammen mit Alexander
Mitscherlich und Strachey) bei der Edition der zwischen 1969 und
1975 erschienenen »Studienausgabe« in zehn Bänden, in der die
Kommentare der »Standard Edition« weitgehend übernommen, übersetzt
und damit deutschsprachigen Lesern zugänglich gemacht wurden. Diese
Ausgabe enthält jedoch nur eine Auswahl von Freuds Werken.
Ilse Grubrich-Simitis, die im Verlag die verantwortliche Lektorin
war, konstatierte denn auch 1987 mit Recht, dass die bisherigen
Ausgaben nur »so etwas wie eine solide Zwischenstation […] auf dem
Wege zu einer definitiven historisch-kritischen deutschen
Freud-Gesamtausgabe« sind, »die auch die voranalytischen Werke und
die Briefe zu umfassen hätte. Diese Edition ist und bleibt ein
Desiderat.« In einem Beitrag zu dem 2006 erschienenen
Freud-Handbuch formulierte sie knapp zwei Jahrzehnte später
abschließend in kritischerem Ton: »Deren Verwirklichung freilich
bleibt eine Aufgabe der Zukunft. Und es ist festzuhalten: solange
die in London entstandenen Gesammelten Werke nach wie vor die
umfassendste deutschsprachige Edition sind, ist der Autor Freud
gleichsam nicht aus dem Exil zurückgekehrt.«
Keine Rückkehr Freuds aus dem Exil?
Bahnt sich nun diese Rückkehr an? Das Gesamtwerk Freuds erscheint
seit August 2015 und müsste, wenn die Verlagsankündigung sich
bewahrheitet, mit insgesamt 23 Bänden spätestens innerhalb eines
Jahrzehnts vollständig vorliegen. Auf ein kühnes Unternehmen haben
sich da der Herausgeber und der in Sachen Psychoanalyse einschlägig
ausgewiesene Verlag eingelassen, anscheinend ohne finanzielle
Förderung irgendwelcher anderer Institutionen, wie es sonst bei
solchen Projekten üblich ist, und ohne ein Kollektiv dafür eigens
angestellter Mitarbeiter. Lediglich einer, Urban Zerfaß, wird
genannt, ein Berliner Antiquariatsbuchhändler, spezialisiert auf
Psychologie und Psychiatrie, zugleich Aufsichtsratsvorsitzender in
der Genossenschaft der Internet-Antiquare, also auch mit anderen
Dingen als mit dieser Edition beschäftigt. Der Herausgeber
Christfried Tögel selbst ist seit Jahren mit der Geschichte der
Psychoanalyse bestens vertraut. 1988 wurde er mit einer Arbeit zum
Thema »Philosophische, historische und wissenschaftstheoretische
Aspekte der Entstehung, Entwicklung und Rezeption der klassischen
Psychoanalyse« an der HU Berlin habilitiert, war danach
Humboldt-Stipendiat am Institut für Geschichte der Medizin in
Tübingen, dessem Direktor Gerhard Fichtner seine Forschungen zur
Geschichte der Psychoanalyse und Freud-Biographik viel verdanken
und bei dem Tögel sich am Ende seiner Einleitung denn auch
ausdrücklich bedankt. Als Supervisor eines Forschungsprojekts des
österreichischen Bundesministeriums für Wissenschaft und Forschung
beteiligte er sich an der »Erfassung und Neuordnung des Freud
Museums« in Wien und arbeitete von 1994 bis 1999 am Freud-Museum in
London. Er hat mehrerer Editionen von Briefen Freuds vorgelegt und
etliche, auch populärwissenschaftliche Bücher zur Traumforschung
und zur Freud-Biographik veröffentlicht.
2003 bis 2015 war er neben der Leitung eines Sigmund-Freud-Zentrums
in Magdeburg Direktor des Salus-Instituts, das sich die
»Professionalisierung von Fach- und Führungskräften aus der
Sozialen Arbeit« zur Aufgabe gemacht hat. Tögel hat offensichtlich
nicht nur fachliche Kompetenzen, sondern auch
Management-Qualitäten. Er lebt inzwischen in Lausanne, wo seine
Frau, Ginka Tögel, als Professorin und Programmleiterin an der
Business School arbeitet. Derartiges sei hier deshalb angemerkt,
weil die Arbeit an der »Gesamtausgabe« von solchen
unternehmerischen Fähigkeiten deutlich geprägt ist.
Die Arbeit an der Ausgabe wirkt perfekt durchgeplant, die
Richtlinien der Edition hat der Herausgeber mit ökonomischer
Knappheit auf vier Seiten klar, stringent und übersichtlich
formuliert. Jeder der fünf bislang vorliegenden Bände, ein sechster
soll in Kürze erscheinen, wird im sparsamen Umfang jeweils ziemlich
genau einer Seite eingeleitet. Von Aufwandsersparnis ist auch die
Arbeit an den Druckvorlagen geprägt. Prinzipiell wird auf die
Erstveröffentlichungen zurückgegriffen. Vergleiche mit späteren
Fassungen, auch wenn sie von Freud selbst verbessert wurden, sind
damit nicht nötig. Offensichtliche Druckfehler werden zwar wie
schon in den »Gesammelten Werken« »stillschweigend« korrigiert,
aber auf alle weiteren Änderungen und Verständnishilfen wird
verzichtet. Das heißt: keine orthographischen Vereinheitlichungen,
keine Übersetzungen fremdsprachiger Texte, keine Erklärungen
medizinischer Fachbegriffe, keine Korrekturen oder Ergänzungen
fehlerhafter oder unvollständiger Quellenangaben Freuds, keine
nachträglichen Querverweise auf spätere Texte zum gleichen
Thema.
Ökonomischer geht’s kaum. Bei der Texterfassung konnte in den
meisten Fällen auf bereits Digitalisiertes zurückgegriffen werden.
Und ohne diese Sparsamkeit wäre diese Gesamtausgabe mit so wenig
Personal und innerhalb eines so kurzen Zeitraums wohl gar nicht
realisierbar. Allerdings bleibt sie damit hinter den Qualitäten der
deutschen »Studienausgabe« und der englischen »Standard Edition«
zurück und nach wie vor weit entfernt von jeglichen Ansprüchen an
eine historisch-kritische Ausgabe. Kleinere Zutaten oder zumindest
Versprechungen sollen aber nicht unerwähnt bleiben: Jedem Text
stellt der Herausgeber »eine Einführung in den biografischen und
wissenschaftshistorischen Zusammenhang« voran und bei den
abgedruckten Rezensionen Freuds eine Einleitung zu denen, die in
einer bestimmten Zeitschrift erschienen sind. Diese Einleitungen
sind durchaus hilfreich für das Verständnis der Texte, bleiben aber
im Vergleich mit den Kommentaren in der »Studienausgabe« meist
oberflächlich. Band VI der »Studienausgabe« beispielsweise mit
Freuds gesammelten Schriften zu »Hysterie und Angst« beginnt mit
einem 1893 in der Wiener medizinischen Presse unter dem Namen von
Freud und Josef Breuer erschienenen Vortrag Ȇber den psychischen
Mechanismus hysterischer Phänomene«. Die »Editorische Vorbemerkung«
weist darauf hin, dass es sich hierbei nicht um einen gemeinsam
formulierten Vortragstext beider handelt, sondern »um die
stenographische, von Freud revidierte Nachschrift eines von ihm
gehaltenen Vortrages«. Sie verweist weiterhin mit Zitaten auf die
späteren zusammen mit Breuer verfassten »Studien über Hysterie«,
auf die Bedeutung, die der Vortrag mit der Beschreibung der
kathartischen Behandlungsmethode für die Geschichte der
Psychoanalyse hatte, und auf die Meinungsverschiedenheiten zwischen
Freud und Breuer, die später zu ihrer Trennung geführt haben. Als
besonders auffallend hebt die Vorbemerkung schließlich »das
Übergewicht des traumatischen Faktors unter den für die Hysterie
angegebenen Ursachen« hervor. In etlichen Fußnoten werden darüber
hinaus Begriffe und Anspielungen kommentiert.
Die Vorbemerkung des Herausgebers zum Abdruck in Band 4 des
Gesamtwerks beschränkt sich dagegen auf einen einzigen Satz. Zwar
geht die Vorbemerkung zum Abdruck einer bereits im Januar 1893
erschienenen »Vorläufigen Mitteilung« mit dem selben Titel auch auf
die Zusammenarbeit zwischen Freud und Breuer ein und erwähnt dabei
die späteren Studien, aber auch das unterbietet den
Informationsgehalt der Studienausgabe erheblich.
literaturkritik.de