Rezension zu Gesamtausgabe (SFG), Band 15
Schweizer Archiv für Neurologie und Psychiatrie 3/2016 (April)
Rezension von Joachim Küchenhoff
Der Psychosozial-Verlag ist aus der großen Welt der Verlage nicht
mehr wegzudenken. Dank der hohen fachlichen Kompetenz des
Verlegerpaares Hans-Jürgen Wirth und Trin Haland-Wirth, ihrem
sicheren Gespür für bedeutsame Inhalte und ihrer mutigen
verlegerischen Initiative hat der Verlag in dem Bereich, für den
der Titel des Verlags steht, ein Buch- und Zeitschriftenrepertoire
zur Verfügung gestellt, das seinesgleichen sucht und Maßstäbe für
die wissenschaftliche und therapeutische Fachentwicklung setzt. Wie
könnte sich das zu Recht gewachsene Selbstbewusstsein des Verlags
besser äußern als durch das Wagnis, eine »Sigmund Freud
Gesamtausgabe (SFG)« herauszugeben, deren erste vier Bände nun
erschienen sind! Was aber will die SFG, ist sie denn nötig? Wie
passt sie sich ein in die bestehenden Editionen der Werke Freuds?
Ist eine Druckausgabe überhaupt noch zeitgemäß?
Gerade die letzte Frage muss mit einem energischen »ja« beantwortet
werden; wenn es stimmt, dass die Gesammelten Werke bald nicht mehr
als gedruckte Bücher vorliegen werden, dann können die Leser Freuds
froh sein, mit der SFG Freud weiterhin buchstäblich in der Hand zu
haben. Was die SFG nicht ist und nicht sein will, das ist eine
historisch-kritische Gesamtausgabe, die nicht existiert und die
doch so dringend gefragt wäre. Was sie aber für sich beansprucht,
das ist die Publikation aller von Freud für den Druck vorgesehenen
Schriften. Ein Blick in die den Bänden mitgegebene Konkordanz zeigt
auf, dass gerade die sog. voranalytischen Schriften, die in den
vorliegenden vier Bänden enthalten sind, nur zu einem sehr geringen
Teil in den anderen Ausgaben greifbar sind. Schon dafür, dass diese
Texte nun zugänglich werden, lohnt die neue Herausgabe, die
Christfried Tögel und Urban Zerfass sorgfältig unternommen
haben.
Nun also liegen die ersten vier Bände vor, zeitlich geordnet geben
sie Freuds Schriften in der Form ihrer Erstveröffentlichung wieder,
nach den Jahren 1877–1885, 1886–1890, 1891 und schließlich
1892–1894. Wer die Bände aufschlägt, wird es schwer haben, sie
wieder zu schließen. Sie eröffnen den Weg in ein unvergleichliches
intellektuelles Abenteuer, dem der Leser oder die Leserin sich
nicht entziehen kann. Zahllose Rezensionen aus der Feder Freuds
legen Zeugnis ab von seiner Auseinandersetzung mit der
naturwissenschaftlichen Medizin seiner Zeit und von einem
unermüdlichen Fleiß. Die Form der Mitteilungen weckt das
wissenschaftshistorische Interesse des Lesers oder der Leserin: Die
große Knappheit mancher Darstellungen und das selbstsichere
Herausgreifen des wichtigen und dem Rezensenten Freud lohnenden
Ergebnisses, diese Formeigentümlichkeiten werfen die Frage auf, ob
hier ein unverwechselbarer Stil sich durchsetzt oder ob Freud sich
der Form der Rezensionen, die in der Zeit üblich waren, angepasst
hat. Hier – wie auch bei den anderen Texten –, das sei kritisch
angemerkt, wünschte man sich doch etwas ausführlichere editorische
Einführungen. Durch die voranalytischen Schriften lassen sich je
nach dem Lektüreinteresse verschiedene Pfade legen. In den ersten
beiden Bänden lässt sich verfolgen, wie Freud das Kokain in
Selbstanwendung und in der Verordnung bei anderen in seinen
Wirkungen entdeckt, erforscht, propagiert und schließlich gegen den
Vorwurf, es mache süchtig, zu verteidigen sucht, unter Einschluss
von Selbstexperimenten: »Ich habe diese gegen Hunger, Schlaf und
Ermüdung schützende und zur geistigen Arbeit stählende Wirkung der
Coca etwa ein dutzendmal an mir selbst erprobt« (SFG Bd. 1, S.
288). Wie das gut nutzbare Sachregister ausweist, wird es ab 1891
still um das Kokain – aus gutem Grund. Ein anderer Pfad, der sich
mitzugehen lohnt, erlaubt es, Freud bei seinen sich konsequent
immer weiterentwickelnden Gedanken zu einem Konzept der seelischen
Ätiologie der Hysterie zu begleiten. Am 26. November 1886 hält
Freud vor der Wiener Gesellschaft der Ärzte einen (zweiten) Vortrag
über die männliche Hysterie. Leider ist der erste Teil des Vortrags
vom 15. Oktober 1886 aus systematischen Gründen erst für den Band
21 der SFG vorgesehen, in dem (zu Lebzeiten) unveröffentlichte
Vorträge enthalten sind. Weil diese Vorträge
Wissenschaftsgeschichte geschrieben haben, weil Freud in ihnen den
Grund und den Beginn seiner Ablehnung unter den Wiener Medizinern
gesehen hat, wäre es schön gewesen, beide Teile zusammen lesen zu
können. Nun gut, der Pfad lässt sich in Band 4 weiter beschreiten;
1893 erscheint die »Vorläufige Mittheilung«, die sich dem Thema
»Ueber den psychischen Mechanismus hysterischer Phänomene« den
hysterischen Störungen zuwendet und die mit Josef Breuer gemeinsam
verfasst worden ist. 1894 wird dann der kurze, aber wirkmächtige
Text »Die Abwehr-Neuro-Psychosen« publiziert, der auch in den
Gesammelten Werken abgedruckt ist.
Band 3 beginnt mit der 1981 gedruckten Arbeit »Zur Auffassung der
Aphasien«, die unverständlicherweise in den Gesammelten Werken
nicht enthalten ist. In ihr entfaltet Freud die Begrifflichkeit,
die er später in den psychoanalytischen Hauptwerken immer wieder
benutzen wird. Er bezieht Wort- und »Objectvorstellung« im
Klangbild aufeinander und geht davon aus, dass die Wortvorstellung
ein »abgeschlossener Vorstellungscomplex«, die »Objectvorstellung
dagegen ... ein offener« (SFG Bd. 3, S. 82) ist, die durch die
»Wortklangbilder« miteinander verknüpft werden. An die Stelle
lokalisatorischer Konzepte zur Erklärung der Aphasie treten bei
Freud »functionelle Eigenthümlichkeiten« (S. 106), also
dynamische Modelle, in denen die »Beziehungen der einzelnen
Elemente der Sprachassociationen« (S. 86) entscheidend sind. Schon
hier stellt Freud die entscheidenden Fragen, z.B. wie sich Wort-
und Sachvorstellung zueinander verhalten, was Erinnerungsbilder
sind, wie sich optische, akustische und motorische Elemente des
Sprachverstehens zueinander verhalten und wie sie assoziativ
miteinander verbunden sind. Der Aphasietext schafft also, auch wenn
er als »voranalytisch« gelten kann und ganz in der Neurologie
verbleibt, die terminologischen und konzeptuellen Grundlagen, die
in verändertem Gewand wiederkehren werden; ihn zu lesen,
erleichtert das Verständnis für die Entwicklung des Freud’schen
Denkens erheblich. Nebenbei bemerkt, zeigt er auch Freuds
entschlossenen Mut, der den Disput auch auf dem neurologischen
Parkett entschlossen mit allen Fachgrößen der Zeit aufzunehmen
bereit ist.
Einen großen Raum nimmt in Band 3 die »Klinische Studie über die
halbseitige Cerebrallähmung der Kinder« ein, die mir unbekannt war.
Ob sie ebenfalls erhellende Entdeckungen erlaubt, das vermag eine
erste kursorische Lektüre nicht zu entscheiden. Was aber sogleich
auffällt, ist der Stil der Arbeit: Die Argumente werden in
nachdenklicher Klarheit abgewogen, ein klares Fazit gezogen, die
klinischen Theorien ausführlich kasuistisch belegt – die Qualitäten
des Autors Freud machen sich auch in dieser Schrift schon
bemerkbar.
Andere Pfade lassen sich durch diese reiche Textlandschaft ziehen.
Wahrscheinlich sind diese ersten vier Bände, auch wenn sie die
voranalytische Zeit Freuds zum Gegenstand haben, besonders
spannend, weil so viele unbekannte Materialien enthalten sind, die
bisher nicht zugänglich waren. Eine Fundgrube für die
wissenschaftshistorisch und psychoanalytisch interessierten
Leserinnen und Leser, die an der allmählichen Entstehung
psychoanalytischer Theorien lesend teilnehmen wollen. Für die
weiteren Bände wird sicher gleichfalls gelten, dass sie die Texte
so präsentieren, wie sie jeweils erstveröffentlicht worden sind.
Die Arbeiten sind also nicht in einer Weise überarbeitet, die sie
entstellen könnte. Das erhöht den Reiz der Lektüre. Nicht zuletzt
ist erwähnenswert, dass die Bücher formschön daherkommen,
sorgfältig gebunden sind und gut in der Hand liegen – das Studium
der Freud’schen Werke wird so auch zu einem sinnlichen Genuss.
Die »Sigmund Freud Gesamtausgabe« wird dazu beitragen können, die
Lektüre Freuds, die so sehr lohnt, neu zu beleben. Sie wird sich
ihren Platz neben der Studienausgabe und den Gesammelten Werken
erobern – im Wissen darum, dass auch sie die ausstehende
historisch-kritische Ausgabe nicht ersetzen kann, auf die wir
weiter warten müssen. Die ersten vier Bände jedenfalls sind ein
gelungener und äußerst lohnender Auftakt.