Rezension zu Gesamtausgabe (SFG), Band 7

Wiener Zeitung Sa./So., 30./31. Januar 2016

Rezension von Johannes Reichmayr

Medizinische Lehrjahre

Zurzeit entsteht eine neue Gesamtausgabe der Schriften Sigmund Freuds. Fünf Bände dieser eindrucksvollen Edition sind bereits erschienen. Sie enthalten die Bruchschriften des Psychologen.

Wir haben uns daran gewöhnt, beim Lesen der Schriften von Sigmund Freud zwischen einer in den 1940er Jahren erschienenen chronologisch gegliederten Ausgabe, einer thematisch gegliederten Studienausgabe und der englischen »Standard Edition« hin und her zu pendeln oder auch zu einer Taschenbuchausgabe zu greifen – ein manchmal zeitaufwändiges Unternehmen. Und es ist eigentlich unglaublich, dass bis heute keine Gesamtausgabe der Schriften Sigmund Freuds in deutscher Sprache vorliegt. Ebenso schwer ist zu glauben, dass es 75 Jahre dauern musste, bis eine Gesamtausgabe möglich wurde. Erst mit dem Ablauf des Copyrights 2014 und einer neuen Generation von Wissenschaftshistorikern, die sich auf die Freud-Biographik und die Geschichte der psychoanalytischen Bewegung spezialisierten und ihr Selbstverständnis über die Wissenschaftsgeschichte, und nicht aus ihrer Nähe zur psychoanalytischen Zunft definieren, konnte dieser historische Makel nun endlich beseitigt werden. Das Verdienst gebührt dem Psychosozial-Verlag in Gießen, namentlich den Verlegern Hans-Jürgen und Johann Wirth, die sich diesem Projekt gestellt haben und mit Christfried Tögel unter Mitarbeit von Urban Zerfaß zwei Fachleute gewinnen konnten, die in der Lage waren, dieses Unternehmen auch umzusetzen.

Eingespielte Muster

Psychoanalysen brauchen ihre Zeit – und Veränderungen im psychischen Bereich gehen nur langsam vonstatten. Die eingespielten und unbewusst determinierten Muster nehmen sich Wiederholungen und Verkleidungen zu Hilfe, um Veränderungen zu widerstehen. Das kann sich auch auf Generationen ausdehnen. Wer die Geschichte der deutsch-sprachigen Freud-Ausgaben auch nur in groben Zügen kennt, möchte meinen, dass derartige Mechanismen auch dabei wirksam sind. Auf die 12 Bände der »Gesammelten Schriften«, die von 1924 bis 1934 im »Internationalen Psychoanalytischen Verlag« produziert wurden, folgten in den 1940er Jahren die »Gesammelten Werke« in 17 Bänden, erschienen im Verlag »Imago Publishing« in London. Sie wurden vom Fischer Verlag in Frankfurt am Main als fotomechanischer Nachdruck übernommen und – 1989 um einen Ergänzungsband erweitert – herausgegeben. Eine thematisch geordnete Studienausgabe und die Neuedition einer in den 1950-er Jahren begonnenen Taschenbuchausgabe kamen als editorischer Kompromiss hinzu. Mehr als zwei Generationen lang änderte sich an dieser Lage fast nichts, die Gralshüter konnten gemeinsam mit dem gut daran verdienenden Fischer Verlag ihren Veränderungsunwillen durchsetzen und begnügten sich mit diesen Ausgaben. Wie in der Geschichtsschreibung der Psychoanalyse mit der dreibändigen Freud-Biographie von Ernest Jones lange Zeit die Heldengeschichtsschreibung als Mainstream befestigt und aufrechterhalten werden konnte, dauerte es auch im Bereich der Edition sehr lange, bis die Tradition eines Provisoriums zu Ende ging und es gelang, die erste Gesamtausgabe der Schriften Freuds zu verlegen.

Die ersten fünf Bände der neuen Sigmund Freud Gesamtausgabe (SFG) in 23 Bänden liegen bis dato vor. Sie beinhalten den Zeitraum von 1877 bis 1896, also die sogenannten »voranalytischen Schriften« bis hin zu den 1896 auf Französisch veröffentlichten Arbeiten, in denen Freud zum ersten Mal den Terminus »Psychoanalyse« benutzt. Die Ausgabe beginnt mit zoologischen Arbeiten über Aal und Flusskrebs, dann folgen Schrif-ten über Kokain, die Monographien über Aphasien und Kinderlähmung sowie Texte in weit gestreuten Gebieten, von der Hirnanatomie über die Kokainforschung bis zur Neuropathologie und Psychiatrie. Erstmals werden rund 200 Rezensionen zusammengestellt, die Freud in den Jahren 1877 bis 1890 verfasste, ebenso seine Beiträge zu medizinischen Handwörterbüchern und Lexika. Auch für nicht auf Freud spezialisierte Forscher eine imposante und interessante Quelle. Jeder Freud-Forscher oder -Interessierte, der nach einer bestimmten Schrift in diesem Zeitraum auf die Suche gehen musste, weiß, wie viel Zeit und manchmal auch Geld investiert werden musste, um an die oft schwer zugänglichen Materialien heranzukommen. Allein dafür gebührt dem Herausgeber, dem Mitarbeiter und den Verlegern Dank – und allein damit hat sich das Projekt bzw. der Erwerb der Bände schon bezahlt gemacht. Endlich kann der Autor und werdende Wissenschaftler Freud im Licht seiner Arbeiten wirklich in Erscheinung treten. Die Bedeutung von Freuds voranalytischen Schriften und damit die Bedeutung vor allem auch der ersten Bände der SFG werden in der Einleitung zum ersten Band deutlich gemacht. Tögel zitiert dort seinen Mentor und Doyen der Freud-Biographik, den 2012 verstorbenen Tübinger Medizinhistoriker Gerhard Fichtner, der nachdrücklich darauf hingewiesen hat, dass eine Zusammenschau von Freuds neuropathologischen und psychoanalytischen Arbeiten »für ein angemessenes Verständnis von Freuds Werk« unbedingt notwendig ist.

Hysterie-Forschung

Der Übergang, der durch die Begegnung Freuds mit Jean-Martin Charcot 1885/86 angestoßen und mit Freuds Kritik an der zeitgenössischen Hirnforschung und Lokalisationstheorie fortgesetzt wurde, kann mit den Bänden II bis V deutlicher als bisher nachvollzogen werden. Band IV enthält die gemeinsam mit Josef Breuer verfasste und 1893 ver-öffentlichte berühmte »Vorläufige Mitteilung« (»Über den psychischen Mechanismus hysterischer Phänomene«), die in das »Urbuch der Psychoanalyse« (Ilse Grubrich-Simitis), die »Studien über Hysterie«, »als die zu illustrierende und zu erweisende These« übernommen wurde. Die Arbeiten werden in der von Freud autorisierten Form veröffentlicht und am Beginn mit einem kurzen historisch-biographischen Text eingeleitet, der dem aktuellen Stand der Freud-Biographieforschung entspricht, zu welcher der Herausgeber Christfried Tögel auch wesentlich beigetragen hat. Dieses Editionsprinzip wird auch für die kommenden Bände beibehalten. Die Bände eins bis 20 enthalten die von Freud zur Veröffentlichung bestimmten Arbeiten in chronologischer Reihenfolge. Band 21 bringt Vortragstexte und Interviews, die entweder gar nicht oder erst postum publiziert wurden. Band 22 beinhaltet von Freud selbst angelegte Chroniken und Kalender und ein Freud-Diarium, das Ereignisse seines Lebens, unabhängig von ihrer Bedeutung für das Werk, auflistet; Band 23 ist der Registerband zu allen Bänden. Jeder Band enthält eine kurze Einleitung und ist mit Abbildungen bestückt; am Ende folgen Tabellen zur Konkordanz, ein Abbildungsverzeichnis, die Literatur, sowie ein Personen- und Sachregister. Das Unterfangen, Freuds Veröffentlichungen in der erstmals erschienenen Form zugänglich zu machen, bezeichnet der Herausgeber als »bescheiden, wenn auch nicht unwichtig«. Alle, die mit Freuds Texten zu tun haben, können von dieser Bescheidenheit nur profitieren.

Die von Freud nicht zur Publikation bestimmten Arbeiten, ebenso seine Übersetzungen, werden in dieser Ausgabe nicht berücksichtigt und bleiben einer historisch-kritischen Gesamtausgabe vorbehalten. Bei der Gestaltung der Ausgabe werden durchweg folgende Prinzipien verfolgt: Jedem Text wird eine Einführung vorangestellt, die den biographischen und wissenschaftshistorischen Kontext skizziert; die Seitenzahlen der Originalausgabe sind im Text eingefügt. Bei Buchveröffentlichungen mit mehreren Auflagen wird die erste Auflage aufgenommen, weitere, veränderte Auflagen werden vom Verlag digital zur Verfügung gestellt. Mit vier Bänden pro Jahr wird die »Sigmund Freud Gesamtausgabe« in 23 Bänden spätestens 2020 komplett vorliegen.

Schöne Bücher

Als ich vor einigen Wochen in meiner Buchhandlung war und die ersten Bände der neuen Gesamtausgabe am Tisch lagen, realisierte ich zunächst nicht, dass sie nun tatsächlich erschienen waren. In der Erwartung dieses doch editions- und wissenschaftsgeschichtlich wichtigen Ereignisses schwang die Sorge mit, wie die Bände nun ausgestattet sein und wie sie die Sinne ansprechen würden. Wie werden die Bände aussehen, wie werden sie anzugreifen, zu halten, zu blättern und zu riechen sein? Wie werden die typographischen Parameter, der Satz und die Schrift etc. gewählt sein, um eine optimale »Ergonomie des Buches« zu gewährleisten? (Vgl. dazu Roland Reuß: Die perfekte Lesemaschine. Zur Ergonomie des Buches. Wallstein Verlag Göttingen 2014.) Meine positive Überraschung habe ich im Laden laut kundgetan und die immer skeptische Buchhändlerin stimmte in meinen Lobgesang ein, der aus den befriedigenden visuellen, haptischen, olfaktorischen und akustischen Eindrücken gespeist wurde. Die Schrift, der Satzspiegel, das Layout, Einband, Schutzumschlag und die Bindung sind eine Wohltat für die Augen, der Band liegt angenehm in der Hand, die Anknüpfung an die große Tradition der Buchgestaltung des »Internationalen Psychoanalytischen Verlages« ist geglückt. Respektabel, ausgewogen, ein Glücksfall von Generationenwechsel. Endlich gehören die blauen und roten Bände der Vergangenheit an und Sigmund Freud kann, in violettes Leinen gebunden, mit Schutzumschlag und einem Lesebändchen versehen, gelesen und genossen werden.

Sigmund Freud Gesamtausgabe in 23 Bänden. Herausgegeben von Christfried Tögel unter Mitarbeit von Urban Zerfaß. Bisher erschienen: Band I bis V. Psychosozial-Verlag Gießen 2015/ 2016. Band VI ist für Juni 2016 angekündigt.

Johannes Reichmayr, Univ.-Prof. Dr. phil., Psychoanalytiker und Psychologe, ist Professor für Psychologie mit besonderer Berücksichtigung der Psychoanalyse an der Sigmund Freud Privatuniversität Wien. Seine Lehr- und Forschungsschwerpunkte liegen auf dem Gebiet der Ethnopsychoanalyse und der Geschichte der psychoanalytischen Bewegung.

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