Rezension zu Unbewusste Erbschaften des Nationalsozialismus
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Rezension von Klaus Ludwig Helf
Vor 70 Jahren, am 8. Mai, wurden die Deutschen von der
nationalsozialistischen Gewaltherrschaft befreit. Als die Waffen
endlich schwiegen, waren mehr als 60 Millionen Menschen tot.
Gefallen an der Front, ermordet in Konzentrationslagern, verbrannt
in Bombennächten, gestorben an Hunger, Kälte und Gewalt auf der
großen Flucht. Mehr als sechs Millionen europäische Juden wurden
ermordet. Tausende Sinti und Roma, Menschen mit Behinderung,
politisch Andersdenkende und Homosexuelle wurden verfolgt und
getötet. 17 Millionen Menschen waren verschollen. Weite Teile
Europas waren zerstört.
70 Jahre nach der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz stand
jetzt ein ehemaliger SS-Mann vor Gericht in einem Prozess, der
schon vor Jahrzehnten hätte geführt werden müssen und der wohl aus
biologischen Gründen einer der letzten Auschwitz-Prozesse war. Das
Verfahren gegen den ehemaligen KZ-Buchhalter Oskar Gröning wegen
Beihilfe zur Ermordung von 300.000 ungarischen Juden machte einmal
das skandalöse Verhalten der Staatsanwaltschaften aus früheren
Zeiten deutlich (die unheilvolle Verstrickung der
Nachkriegsdeutschen- mit der NS-Justiz wurde erst seit einigen
Jahren aufgearbeitet); auch, dass die sozialgeschichtlichen und
sozialpsychologischen Folgewirkungen des Nationalsozialismus auf
der Täterseite noch immer nicht ausreichend erforscht und
publiziert sind.
Hier leistet der vorliegende Band vorbildliche, aufklärende und
erhellende Dienste; er geht zurück auf die Ergebnisse einer
Tagungsreihe der Evangelischen Akademie Hofgeismar zum Thema Erbe
des Nationalsozialismus (2004 bis 2012); mehrheitlich hatten die
Autorinnen und Autoren der Beiträge auf den Tagungen referiert;
einige Artikel wurden ergänzend aufgenommen. In einem einleitenden
Aufsatz referiert die damals zuständige Tagungsleiterin, Heike
Radeck, Kontext und Prozess der Tagungen und skizziert die
einzelnen Beiträge: »Ich hoffe, dass die Tagungsreihe ...
revolutionäre Anstöße geben konnte und zu einer Erinnerungskultur
beigetragen hat, die seelischen Reichtum und geistige Würde
befördert« (S.24). Wenn man sich durch den Band durchgearbeitet
hat, so kann man dieser Hoffnung nur absolut positive Rückmeldung
geben; die psychoanalytischen, sozialpsychologischen und
historischen Beiträge machen in vielfältiger und einleuchtender
Weise deutlich, wie die von der Tätergeneration abgelehnte
Verantwortung für ihre schuldhafte Mitwirkung an und/oder
Verstrickung in die Verbrechen und Grausamkeiten des NS-Regimes
sich unbewusst in die Psyche ihrer Nachkommen eingefressen hat und
deren Ursache diese nicht erkennen können: Identitätsstörungen,
diffuse Schuld- und Trauergefühle, Wünsche nach Wiedergutmachung
und Schamgefühle. Wissenschaftliche Forschungen belegen auch, dass
die unbewusste Weitergabe unverarbeiteter Konflikte die Entstehung
von rechtsextremen Orientierungen, Identifikationen und Handlungen
begünstigen kann.
Die beiden Herausgeber des Bandes sind wissenschaftlich
ausgewiesene Forscher zum Thema Nationalsozialismus und
transgenerative Prozesse: Angela Moré ist als Sozialpsychologin
Professorin an der Leibniz Universität Hannover, Mitbegründerin des
gruppenanalytischen Instituts GIGOS und hat u.a. zu
transgenerationalen Prozessen aus einer psychoanalytischen
Perspektive publiziert. Jan Lohl ist promovierter
Sozialwissenschaftler und Coach, wissenschaftlicher Mitarbeiter am
Sigmund-Freud-Institut in Frankfurt/M. mit den Arbeitsschwerpunkten
Psychoanalytische Sozialpsychologie, Psychoanalyse und qualitative
Sozialforschung, generationenübergreifende Nachwirkungen des
Nationalsozialismus; Veröffentlichungen zu diesen Themen.
Nach dem bereits erwähnten Beitrag von Heike Radek folgen weitere
neun Aufsätze, die sich mit unterschiedlichen wissenschaftlichen
Perspektiven und Methoden mit den Nachwirkungen des
Nationalsozialismus auseinandersetzen: empirisch, theoretisch,
historisch, sozialwissenschaftlich, basierend auf der
gruppenanalytischen und therapeutischen Praxis oder aufgrund der
eigenen Biografie. Folgende Themen werden im Einzelnen bearbeitet:
Deutsche Geschichtsdebatten als Generationengespräch (Hannes Heer)
/ Antisemitismus und Rechtsextremismus in der Bundesrepublik
(Wolfgang Benz) / Transgenerationalität und Rechtsextremismus (Jan
Lohl) / Zum Szenischen Erinnern der Shoah (Kurt Grünberg &
Friedrich Markert) / NS-Täterschaft und die Folgen verleugneter
Schuld bei den Nachkommen (Angela Moré) / Über Kriegserlebnisse der
Väter und ihre Schatten auf die Nachkriegsgeneration (Ruth Waldeck)
/ Von der Abwehr durch Spaltung zum Dialog (Elke Horn) / Folgen der
Verleugnung der NS-Geschichte für die Nachkommen und über deren
Aufarbeitung (Ute Althaus) / Gefühlserbschaften des
Nationalsozialismus und Geschlecht (Katharina Rothe & Oliver
Decker). Am Ende der jeweiligen Beiträge ist ein
Literaturverzeichnis angefügt; die Vita der Autorinnen und Autoren
wird am Ende des Bandes skizziert.
Den umfangreichsten und gesellschaftspolitisch brisantesten Beitrag
hat Hannes Heer (Kurator der kontrovers und hochemotional
diskutierten »Wehrmachtsausstellung«) beigesteuert; bei der Analyse
der NS-Geschichtsdebatten und -Skandale (u.a. Historikerstreit,
Wehrmachtsausstellung, Jenninger, Grass, Walser) kommt er zu
folgendem Fazit:
»Es waren geplante und bewusste Aktionen, die in der Absicht
erfolgten, gegen ein herrschendes Geschichtsbild und dessen
Sprachregelungen Front zu machen und beides zu verändern oder eine
neue, kritische Aneignung der Geschichte zu verhindern. Ein Skandal
wurde daraus, wenn solche Vorstöße von großen Teilen der
Gesellschaft oder in deren Vertretung: von Experten als grobe
Regelverstöße angesehen und mit öffentlichem Protest beantwortet
wurden ... In Skandalen überprüft eine Gesellschaft die Gültigkeit
ihrer moralischen und politischen Normen. Das kann zur Bestätigung
dieser Normen und einem neu bekräftigten Konsens führen oder aber
die Öffnung zu veränderten Haltungen und entsprechend anderen
Grenzziehungen ermöglichen. Im letzteren Fall wirken Skandale als
vorlaute Boten des Neuen.« [S. 78/79]
Freud stellte bereits in »Totem und Tabu« fest, dass keine
Generation imstande sei, bedeutsamere seelische Vorgänge vor der
nächsten zu verbergen; auch bei den Versuchen der Entstellung und
Vertuschung ihres Erlebens spürten die Jüngeren diese unbewusst
übermittelte »Gefühls-Erbschaft« und würden dadurch beeinflusst
oder gar geprägt werden. Für die Nachkommen bedeutet dies, dass sie
Gefühle in sich aufnehmen und wahrnehmen, die nicht durch eigene
Erfahrungen erworben wurden, sondern durch Bezugspersonen
vermittelt wurden. Die Eltern selbst kämen zwar über das Erlebte
und das Verschuldete mit den Kindern und Enkeln nicht ins Gespräch
darüber, hofften aber unbewusst darauf, bei denen Entlastung oder
sogar Verständnis zu finden. Angela Moré verweist darauf, dass die
Vermittlung dessen, was unsagbar ist und verborgen werden soll, in
Metaphern und Bildern, Gesten, Andeutungen, Inszenierungen oder in
neurotisch induzierten emotionalen Reaktionen und Verhaltensweisen
geschehe (S. 240). So stellte Moré bei NS-Tätern folgendes fest:
»Von ihren Kindern wollten sie als Opfer gesehen und bedauert
werden ... Auf direkte Fragen der Kinder hin reagierten sie
entweder mit eisigem Schweigen und Gefühlskälte, wenn nicht gar mit
Ärger und zornigen Zurückweisungen, als werde ihnen Unrecht getan«
(S.209).
Über die Formen und Wege, über die sich die Verstrickungen der
NS-Zeit indirekt an die Nachkommen übertragen und sich »als
rätselhafte und widersprüchlichen Eindrücke« in der Gefühlswelt der
Nachkommen abgelagert haben, wurde in den letzten Jahren viel
geforscht:
»Es sind primär körpersprachliche Botschaften mit hohem affektivem
Gehalt, die den Kindern signalisieren, wo sie Tabus berühren und
die Identität ihrer Eltern bedrohen. Die Antworten der Eltern
darauf waren entweder Abwendung und Rückzug, die von Emotionen wie
Ärger oder Trauer begleitet wurden oder aber Vorwürfe, undankbar zu
sein. Sie reagierten mit trotziger Abwehr oder der Androhung von
Strafen und Liebesentzug bis hin zur Verstoßung der eigenen
Kinder.« [S.210]
Die aktuellen Ereignisse um die skandalösen Verstrickungen und
Vertuschungen bei der NSU-Affäre, um die Aufmärsche von »Pegida«,
um die Ausschreitungen und Morddrohungen wegen der Flüchtlinge und
Asylbewerber und um die antisemitischen Anschläge in Paris lassen
die Probleme und Fragen nach den unbewussten und nicht bearbeiteten
Erbschaften des Nationalsozialismus wieder aufleben; die jeweils
unterschiedlichen Beiträge dieses Bandes weisen eindrücklich und
nachdrücklich darauf hin, dass die NS-Täterschaft und das
transgenerationale Erbe noch nicht erschöpfend erforscht sind - wie
auch Ute Althaus in ihrem Beitrag feststellt:
»Loyalität mit den Tätern geht mit einer Empathieverweigerung mit
den Opfern einher. Eine Täterforschung, die die Menschen des
Widerstands und das Leiden der Opfer nicht mit einbezieht, führt
eher zu entschuldigenden und den Tätern gegenüber loyalen
Ergebnissen. Ich bezweifle, ob eine Forschung ohne Bearbeitung der
eigenen Ausblendungen und blinden Flecken, die wir Kinder der Nazis
uns in unserem Aufwachsen in diesen NS-Familien als
Überlebensstrategien aneignen mussten, überhaupt möglich sei.« [S.
283]
Der Band ist eine hervorragende Basis für eine vertiefende
wissenschaftliche und politische Reflexion der »Gefühlserbschaften«
des Nationalsozialismus; er ist trotz seines wissenschaftlichen
Anspruchs wegen seiner klaren, gut verständlichen Sprache, der
praxisnahen und beispielhaften Komposition auch für ein breiteres
interessiertes Publikum zugänglich. Das ist auch gut so – damit
möglichst viele sich mit dem verheerenden, nachhaltigen Wirken des
NS-Erbes grundsätzlich auseinandersetzten können, auch in
selbst-reflexiver Absicht.
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