Rezension zu Grenzverschiebungen des Sexuellen
Pro-Familia-Magazin 1/2016
Rezension von Alexandra Ommert
Sexuelle Vielfalt: Wissenschaftliche Diskurse und ein Ratgeber
Sexuelle Vielfalt war im letzten Jahr in aller Munde: Nicht nur im
Zuge von Demonstrationen der so genannten »besorgten Eltern«,
sondern es erschienen auch einige wissenschaftliche Aufsatzbände,
die sich aus unterschiedlichen disziplinaren Zugängen mit dem Thema
beschäftigen. Die Möglichkeiten von geschlechtlichen und sexuellen
Lebensweisen haben sich in den letzten Jahrzehnten so rasant und
umfänglich verändert und erweitert wie in kaum einem anderen
Lebensbereich.
Dementsprechend beschäftigen sich wissenschaftliche Untersuchungen
aus unterschiedlichen disziplinaren Blickwinkeln damit, was
sexuelle Vielfalt in der Gesellschaft und dem Leben der einzelnen
bedeutet. Die hier besprochenen Aufsatzbände geben Einblick in
Debatten, die insbesondere für die verbandlichen Diskussionen von
pro familia und die Arbeit von sexualpädagogischen und
sexualberaterischen Fachkräften bereichernd sein können. Im
Folgenden können lediglich die Schwerpunkte der Aufsatzbände
beschrieben werden, da jeder Band eine Vielzahl von Themen
behandelt.
Der Band »Selbstbestimmung und Anerkennung sexueller und
geschlechtlicher Vielfalt« verortet sich in den Berufs- und
Arbeitsfeldern Pädagogik, Soziologie und Sozialarbeit und greift
somit die bildungspraktische Perspektive auf. Ausgangspunkt der
drei Herausgeberinnen ist die diagnostizierte Gleichzeitigkeit von
Normalisierung und Marginalisierung sexueller Vielfalt: Schwule,
Lesben und Trans*Personen sind zunehmend im Alltag sichtbar,
zugleich gibt es jedoch versteckte, strukturelle und offene
Diskriminierungen. Von Heteronormativität abweichende
Lebensentwürfe werden immer noch als nicht »normal« betrachtet.
Daher ist es konsequent, dass eine Reihe von Beiträgen in diesem
Band sich mit Ungleichheiten beschäftigen, die sich entlang von
Heteronormativität entwickeln. Diese Abhandlungen geben eine gute
Einführung in die Begrifflichkeiten der Debatte um
Intersektionalität und Mehrfachdiskriminierung im Kontext von
Ungleichheitsforschung. Ein Beitrag diskutiert dabei insbesondere
die rechtlichen und medizinischen Grenzen, an die
intergeschlechtliche Menschen stoßen. Weitere Aufsätze des Bandes
geben Einblicke in biografische Erzählungen von Menschen, die sich
jenseits der Heteronormativität verorten und thematisieren mögliche
Bedeutungen von sexueller Vielfalt in verschiedenen Lebensphasen:
Kindheit, Jugend und Familie. Vor allem diese Beiträge können für
die Beratungspraxis gewinnbringend sein. Insbesondere der Aufsatz
über die Praxis pädagogischer Fachkräfte zeigt, dass es zwar eine
theoretische Akzeptanz sexueller Vielfalt im professionellen
pädagogischen Bereich gibt, bei der Umsetzung jedoch Probleme und
Unsicherheiten bestehen (Friederike Schmidt/ Anne-Christin
Schondelmayer: »Sexuelle und geschlechtliche Vielfalt - (k) ein
pädagogisches Thema?«).
Aus soziologischer Sicht ordnet der Band »Sexuelle Vielfalt und die
Unordnung der Geschlechter« die Debatte um sexuelle Vielfalt in
eine seit den 1980er Jahren bestehende Diskussion in der Sexual-
und Geschlechterforschung ein. So bietet insbesondere die
Einleitung von Cornelia Koppetsch und Sven Lewandowski einen guten
Überblick über die zentralen Argumente und Paradigmen
feministischer Theorie und Sexualwissenschaft bezüglich sexueller
Vielfalt. Die Beiträge vertiefen diese Fragen nach Zusammenhängen
und Begrifflichkeiten. Einige Aufsätze diskutieren sexuelle
Vielfalt im Hinblick auf die herrschende Geschlechterordnung, in
anderen Beiträgen werden vor allem sexuelle Praktiken in den Blick
genommen und untersucht, inwiefern Sexualität, Begehren, Geschlecht
als Konzepte zusammenhängen. Zudem werden empirische Untersuchungen
vorgestellt, wie beispielsweise eine ethnografische Studie über die
Swinger-Szene und eine Studie über Männlichkeits- und
Weiblichkeitsbilder in Verführungsratgebern.
Die Beiträge des Bandes »Grenzverschiebungen des Sexuellen« sind
durch eine sexualwissenschaftliche Perspektive gerahmt. Insofern
steht hier sexuelle Vielfalt als Begriff nicht im Fokus, sehr wohl
jedoch die Auseinandersetzungen mit Normen, Normalisierung und den
kleinen, alltäglichen Grenzverschiebungen im Bereich der
Sexualität, die sich gesellschaftlich niederschlagen. Dabei wird
auch die Auseinandersetzung mit schützenden Grenzen und der Wahrung
von Grenzen einbezogen, um so die Verletzbarkeit im Nahbereich der
Sexualität verhandeln zu können.
Mit diesem Band meldet sich eine junge Generation von kritischen
Sexualwissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern zu Wort,
obwohl – oder vielleicht gerade weil – universitäre
Strukturen für diese Disziplin in den letzten Jahren zunehmend
prekär wurden. Eine kritische Sexualwissenschaft ist heute jedoch
dringend notwendig, so die Diagnose von Volkmar Sigusch im
Geleitwort zum Band. Sie kann viel dazu beitragen, die aktuellen
»Grenzverschiebungen des Sexuellen« verstehbar zu machen und ist
als fachlicher Bezugspunkt für die Sexualberatung und
Sexualpädagogik von hoher Bedeutung. Im Band werden vier
Themenbereiche abgedeckt: 1. Grenzverletzungen und die
Auseinandersetzung mit Tätern und Opfern von sexuellem Missbrauch,
2. die Reflexion von Grenzen des Sexuellen, 3. Sexuelle Beziehungs-
und Lebensweisen und 4. die Auseinandersetzung mit
Geschlechtergrenzen.
Alle drei Aufsatzbände lohnen sich aufgrund der Einordnung in die
jeweiligen wissenschaftlichen Disziplinen und Debatten, auch wenn
die einzelnen Beiträge eine heterogene Forschungspraxis und
teilweise unterschiedliche forschungstheoretische Zugänge
abbilden.
Neben diesen akademischen Aufsatzbänden sind in letzter Zeit auch
Bücher erschienen, die sexuell vielfältige Lebensrealitäten und
pädagogische Praxis reflektieren und begreifbar machen wollen. Ein
Beispiel unter vielen ist das Buch »Das Innere entscheidet«. Neben
Definitionen und Erklärungen von Transidentität gibt es darin
Berichte über Lebenswege und Erfahrungen von transidenten Menschen,
aber auch Informationen über Gutachten und Psychotherapie im
Kontext von Transsexualität. Eine Bücherliste, weiterführende
Internet-Adressen und der Verweis auf Selbsthilfegruppen ergänzen
den Ratgeber.
Bücher wie diese rücken die Sichtbarkeit, Anerkennung und
Wahrnehmung sexueller Vielfalt ins pädagogische Bewusstsein. Sie
fordern uns auf, uns mit den verschiedenen Identitäts- und
Lebensentwürfen auseinanderzusetzen und die Erkenntnisse in die
praktische Arbeit einfließen zu lassen – indem wir uns für
selbstbestimmte Sexualität und sexuelle Rechte einsetzen.