Rezension zu Gefängnisaufzeichnungen
Einsicht 15 – Bulletin des Fritz-Bauer-Instituts Frühjahr 2016
Rezension von Galina Hristeva
Ein schwarzes Heft voller Hoffnung
Wirst du heute zu mir finden/holder, kleiner Sonnenstrahl/Freude
künden, Hoffnung zünden/Licht, das mir der Winter stahl?
»Sonnenzauber«, aus dem diese Verse der Psychoanalytikerin Edith
Jacobson (1897–1978) stammen, ist kein Naturgedicht, wie man
annehmen könnte. Und das »kahle böse Dach«, unter dem das lyrische
Ich zur Sonne spricht, ist nichts anderes als die Berliner
Untersuchungshaftanstalt Moabit, in der Jacobson von 1935 bis 1936
saß. Zugänglich geworden ist uns dieses Gedicht – zusammen mit
mehreren weiteren Texten – durch das in der Haft entstandene
»Schwarze Heft« Jacobsons. Veröffentlicht wurden diese
»Gefängnisaufzeichnungen« erst 2015 dank dem außergewöhnlichen
Engagement der Journalisten und Sozialwissenschaftler Judith
Kessler und Roland Kaufhold und des Psychosozial-Verlags.
Judith Kessler, die das »Schwarze Heft« bereits 1988 mit dem
Nachlass ihrer Mutter erhalten hatte, berichtet über die
»Verkettung von Zufällen« (S. 13), die dazu führte, dass sie »ein
Vierteljahrhundert auf Jacobsons Gefängnisnotizen saß« (S. 11).
Roland Kaufhold zeichnet kenntnisreich und ergreifend die Biografie
der Jüdin, Psychoanalytikerin und Widerstandskämpferin Jacobson
nach.
Das Dilemma Wissenschaft oder Politik entscheidet Jacobson für sich
schnell: »Als ich jung war, habe ich mich für Politik nicht
interessiert. Mich interessierte einzig und allein die Wissenschaft
[...]. Aber dann, Ende der zwanziger Jahre, begann Hitlers
Aufstieg, und schon bald hatte er immer größere Massen hinter sich.
Hier lauerte eine Gefahr, das spürte ich. Ich hörte seine Reden und
las Mein Kampf, und ich war entsetzt.« (S. 52) Jacobson, deren
Familie nicht emigrieren wollte, schließt sich der
Widerstandsgruppe »Neu Beginnen« an. Am 24. Oktober 1935 von der
Gestapo verhaftet, muss sie für elf Monate in Untersuchungshaft und
wird im September 1936 wegen Hochverrats zu zwei Jahren und drei
Monaten Haft verurteilt. 1938 flieht sie in die USA, wo sie bis zu
ihrem Tod im Jahre 1978 erfolgreich als Psychoanalytikerin
arbeitet.
Das »Schwarze Heft« Edith Jacobsons ist ein bewegendes Dokument
über die ersten Monate in der U-Haft. Die tagebuchartigen Notizen
(im Buch auch durch Faksimiles einsehbar) – eine beeindruckende
Mischung aus wissenschaftlicher Objektivität und subjektiver
Wahrnehmung – gewähren einen Einblick in Alltag und Gemütszustand
der Gefangenen. Nach nur wenigen Tagen überwindet sie die
ursprüngliche »Schockwirkung« (S. 82) und die darauffolgende
narzisstische Selbstüberhöhung:
»5. Tag. Zunehmende Einstellung auf die Realität: Beobachtung der
Umgebung, der Sträflinge, Gemeinsamkeitsgefühl mit diesen [...].
Ausgeglicheneres Empfinden. Tiefe Sorge um Mutter und die nächsten
Menschen. Fast angstfrei. Trotziges Widerstandsgefühl: nun gerade
laß ich mich nicht unterkriegen. Innerer Schwur Durchzuhalten [sic]
um jeden Preis.« (S. 83)
Auch Jacobsons Gedichte legen ein beredtes Zeugnis vom Leben im
Gefängnis ab. Von Trauer und Schmerz durchdrungen, dienen sie
zugleich der Verarbeitung der Schrecken der Haft. Die große
Formenvielfalt dieses kostbaren lyrischen Nachlasses (Ballade,
Sonett, Parabel, Schüttelreime usw.) ist kein ästhetischer
Selbstzweck, sondern ein Mittel zur Artikulation des humanistischen
Ethos der Autorin. Das Motiv der Auferstehung
(»Auferstehungslied«), des Frühlings (»Alpen-Frühling. Arosa«), des
oben genannten »Sonnenzaubers« und der Sonntagsglocken
(»Sonntagsglocken«) – sie alle läuten einen Neubeginn, das
»Siegesfeuer« für »die freie Erde« (S. 98) ein. Das Gedicht
»Bekenntnis« protestiert gegen die Kluft zwischen Deutschen und
Juden, fordert Menschlichkeit jenseits der Volkszugehörigkeit.
Jacobson – eine Frau, die »sich diszipliniert, analysiert,
reflektiert« (Kessler, S. 19) – verfasst im Gefängnis auch die hier
abgedruckte psychoanalytische Studie »Zur Technik der Analyse
Paranoider«. Dem Misstrauen der Patienten setzt sie ihre
»paedagogische Haltung«, ihre »unerschütterliche Geduld« entgegen,
um durch »Hilfsbereitschaft und Vertrauenswürdigkeit« (S. 141) das
Vertrauen des Mitmenschen wiederzugewinnen.
Das »Schwarze Heft« ist ein Ereignis. Andrea Huppkes Bedenken, ob
hier etwas Neues vorliegt und ob dieser Fund die Publikation
verdient (Psyche 12/2016), sind unberechtigt und schmälern die
Bedeutung und die Brisanz der Publikation keineswegs. Trotz der
ausbleibenden Unterstützung vieler ihrer deutschen Kollegen, trotz
der Streichung ihres Namens aus der Mitgliedsliste der Deutschen
Psychoanalytischen Gesellschaft und trotz des skandalösen
Schulterschlusses der damaligen offiziellen Psychoanalyse mit dem
nationalsozialistischen Regime – unrühmliche Tatsachen, die uns
hier von Roland Kaufhold wieder ins Gedächtnis gerufen werden –
zeigen Jacobsons Haftnotizen die Stärke einer Frau, die sich vom
nationalsozialistischen Terror nicht einschüchtern ließ – und das
Gesicht und den Zauber der anderen, der freiheitsliebenden,
widerständigen Psychoanalyse.