Rezension zu Orakel, Träume, Transzendenz
Grenzgebiete der Wissenschaft 3/2015
Rezension von A. Resch
Dr. Steffi Zacharias, Psychologin, Psychotherapeutin und
Psychoanalytikerin legt hier ihre überarbeitete Dissertation vor,
die von der Universität Leipzig angenommen wurde. Der Arbeit ging
eine Feldforschung in einer Region in Südmexiko in den Jahren 1998
bis 2000 voraus. In der vorliegenden Veröffentlichung spannt die
Autorin, ausgehend von ihrem Berufsfeld der westlichen
Psychotherapie, einen weiten Bogen vom eigenen Lebenspunkt in
Deutschland zu den Behandlungsräumen von Heilern in der Hochebene
Mexikos, um westliche Psychotherapie und Traditionelle Mexikanische
Medizin (TMM) gegenüberzustellen.
Die westliche Psychotherapie mit ihren zahlreichen Schulen war bis
in die 1980er Jahre vor allem darauf orientiert, Psychotherapie als
nachweislich wirksame Behandlungsform im Kreise anderer
medizinischer Behandlungen zu etablieren. Dieses Streben nach
berufspolitischer und akademischer Etablierung führte zur
Abdrängung der sogenannten »metaphysischen« Aspekte des Psychischen
aus Theorien, Forschungsinhalten und methodischen Ansätzen.
Die Psychologie und Psychotherapie ohne Seele konfrontiert
Zacharias hier mit der traditionellen mexikanischen Medizin der
Gegenwart, die in ihrem Wesen durch die erfahrungsbasierte
indianische Heilkunst geprägt ist, welche weit vor der Ankunft der
spanischen Kolonisatoren in Mexiko bereits über ein differenziertes
Medizinsystem verfügte. So sind chirurgische Behandlungen und eine
umfassende Nutzung pflanzlicher und anderer Heilmittel
dokumentiert. Über die Vorstellungen der präspanischen
Nahua-Indianer lassen sich drei Wirkebenen des Psychischen
ausmachen, nämlich die Ebene des Geistes, die emotional-affektive
und die triebhaft-instinktive Ebene.
Diese genuine Nähe zu indianischen und damit heidnischen Religionen
wurde allerdings von den christlichen, dabei in Mehrheit
katholischen, Kolonisatoren bekämpft und wird bis heute mit
Misstrauen bedacht. Hinzu kommt noch, dass die in der Mitte des 18.
Jahrhunderts einsetzende biologische Orientierung der
wissenschaftlichen Medizin die TMM als nicht wissenschaftliches
Medizinsystem gänzlich ablehnte. Erst Impulse aus der
internationalen Gesundheitspolitik, wie durch die WHO-Konferenz von
Alma-Ata 1972, bewirkten eine positive Einstellung. Inzwischen ist
die TMM bereits in mehreren mexikanischen Bundesstaaten
anerkannt.
Nach einem Bericht über die oben genannte Feldforschung in der
Region Oaxaca und die Begegnung mit Heilerinnen und Heilern geht
Zacharias auf das Verständnis psychischer Erkrankungen, psychische
Dysregulation, psychische Gesundheit, Prävention und die
Behandlungspraxis psychischer Krankheiten in der TMM ein. Einen
besonderen Stellenwert hat dabei der Begriff des »Geistes«
(espiritu). So sagt die Heilerin Guadalupe: »Der Geist von jedem
von uns ist immer gesund. Er ist wie unser Schutzengel, unser
Geist. Nur ist es so, dass er sich manchmal von unserer Seele
loslöst. Das nennen wir ›spirituelle Krankheiten‹, obwohl es
eigentlich die Seele ist, die krank wird. Die Person bleibt zurück,
ohne Antrieb, ohne Denkvermögen. Das ist so, weil ihr Geist sich
entfernt hat« (S. 80).
Daher wurden von den Heilern folgende psychische Funktionen und
Phänomene als unmittelbarer Ausdruck des Wirkens geistiger Kräfte
im einzelnen Menschen gesehen: Träume und veränderte
Wachbewusstseinszustände als Möglichkeit der Kommunikation des
Individuums mit göttlichen Instanzen, Sinnerleben und
Identifikationsgefühl als Manifestationen eines (gesund)
entfalteten individuellen »Geistes«, bestimmte psychische Störungen
und Erkrankungen, wie dissoziative Bewusstseinszustände und andere
psychotische Zustandsbilder. Die an der Studie beteiligten Heiler
kennen elf spezische Krankheitskonzepte: Erkrankung durch
Erschrecken (susto), durch Neid und aggressive Gefühle anderer,
durch den bösen Blick, durch negative Schwingungen, durch intensive
eigene Gefühle, durch Selbstwertstörung (nicht-traditionelle
Konzepte).
Angesicht der seit Jahren im europäischen Raum steigenden Zahl
psychischer Erkrankungen und der Suche nach Prävention durch
Methoden der Gesundheitspsychologie und der Salutogenese-Forschung
erweist sich die Prävention psychischer Erkrankungen innerhalb der
TMM als althergebracht. So wird darin eine religiöse
Grundüberzeugung als der wichtigste Schutzfaktor gegenüber
Krankheit betrachtet: der Einzelne erlebt sich in der
transzendenten Beziehung in einer nahen Geborgenheit; der Glaube
und das Vertrauen in die schützende Macht fördern die optimistische
Haltung gegenüber den Ungewissheiten der Zukunft; die
spirituell-religiösen Überzeugungen und Erlebnisse bieten wichtige
Quellen für das Erleben von der Sinnhaftigkeit des eigenen
Tuns.
Im Gegensatz zu den psychischen Behandlungsmethoden in der
westlichen Psychotherapie mit ihren Gesprächsformen dominiert in
der TMM das Handeln in Form von Ritualen zur Begegnung des Menschen
mit dem Göttlichen. Von besonderem Interesse sind in diesem
Zusammenhang die psychodiagnostischen Zugänge der TMM, die sich in
sieben Diagnosemethoden gliedern lassen: Beurteilung des Äußeren,
körperliche Untersuchung, empathische Wahrnehmung, diagnostische
Information, spirituelle Diagnose, Traumanalyse und
Orakeldeutung.
Bei der Behandlung von diagnostizierten Störungen oder Krankheiten
kommen, wie erwähnt, nicht so sehr Gespräche als vielmehr Rituale
zum Einsatz, wie Reinigungsrituale, Reintegrationsrituale und
Schutz- und Stärkungsrituale. Eine besondere Heilmethode ist das
sog. Schwitzhüttenritual, das bis in die präspanische indigene
Heilkunst zurückreicht und durch Ertragen von Hitze den Willen und
die innere Ruhe stärkt, die Empfindlichkeiten schwächt und die
eigenen Laster verbrennt.
Zu den unterstützenden psychotherapeutischen und
physiotherapeutischen Maßnahmen der TMM gehören ferner die
Verordnung pflanzlicher Mittel, die Durchführung von Massagen und
die Empfehlung von Diäten.
Nach der Beschreibung von drei ethnotherapeutischen
Einzelfallstudien stellt die Autorin schließlich die Frage, wie
wirksam die TMM bei der Behandlung psychischer Erkrankungen im
Vergleich zu westlicher Psychotherapie ist? Bei einer kleinen
Patientenstichprobe mit psychischen und psychosomatischen
Beschwerden unterschiedlicher Schweregrade wurden signifikante und
zeitlich stabile Therapieeffekte ermittelt, die darauf hinweisen,
dass die TMM als Ethnopsychotherapie einen mit westlichen
Psychotherapien vergleichbaren Wertungsgrad hat. Auf alle Fälle
sind der sakrale Bezug und der Stellenwert des »Geistes« ein
therapeutischer Faktor, den die westliche Psychotherapie zu ihrem
Nachteil eliminiert hat.
Die Arbeit ist in Gliederung und Diktion sehr verständlich angelegt
und geschrieben und mit Bildern und Tabellen ausgestattet, sodass
man am Schluss einen guten Einblick in die TMM und ihr Verhältnis
zur westlichen Psychotherapie gewinnt. Ein Einblick, dem man
gegenseitige Anregung wünscht!
Ein Literaturverzeichnis, ein Anhang mit Bildhinweisen,
Tabellenangaben, ein Vermerk von Exkursen sowie Angaben zu den
Methoden der Untersuchung beschließen diese wertvolle
interkulturelle Arbeit. Ein Sach- und Namenregister hat man sich
leider erspart.