Rezension zu Psyche zwischen Chaos und Kosmos

Rezension von Christina Kurz

Janine Chasseguet-Smirgel, eine national und international anerkannte Psychoanalytikerin, 1930 in Paris geboren, hat ein umfangreiches, stilistisch beeindruckendes und viel zitiertes psychoanalytisches Werk geschrieben, das eine Vielfalt von thematischen und bisher wenig erforschten klinischen, literarischen, religionswissenschaftlichen und politischen Bezügen umfasst.

Im vorliegenden wissenschaftlichen, engagierten und spannenden Buch (das auf ihrer Habilitationsschrift beruht), setzt sich die Sozialwissenschaftlerin Angela Moré kritisch mit allen verfügbaren Schriften Chasseguet-Smirgels auseinander und verfolgt minutiös ihre Denk- und Argumentationslinien, macht die ihnen zugrunde liegenden Grundannahmen transparent und – besonders bedenkenswert und mit bewundernswerter Kompetenz – reflektiert auch die problematische Anwendung ihrer psychoanalytischen »Erkenntnisse« auf kulturelle, soziale und politische Phänomene. A. Moré berücksichtigt die bisherige Kritik am Denken von J. Chasseguet-Smirgel und führt sie fort, indem sie sie auf dem Hintergrund eigener langjähriger Forschungstätigkeit in der psychoanalytischen Entwicklungspsychologie, Psychosexualität und Geschlechterforschung um entscheidende Dimensionen ergänzt.

Um die LeserInnen auf diesem spannenden Weg der Spurensuche mitzunehmen und um sich nicht in der Vielfalt der von Chasseguet-Smirgel angesprochenen Themen zu verlieren, hat A. Moré im ersten Teil des Buches, »Das Psychoanalytische Universum Chasseguet-Smirgels«, die diskussionswürdigen Themen im Kontext der jeweiligen Schlüsseltexte von Chasseguet-Smirgel herausgearbeitet, diskutiert und Positionen der Freudschen Psychoanalyse und anderer Wissenschaftler dagegengestellt.

Sie hat die Vielfalt der angesprochenen Themen in 5 Gruppen gebündelt: (1) »Die weibliche Psychosexualität«, (2) die archaische Matrix des Ödipuskomplexes, (3) die Analität, (4) das Ichideal, die Kreativität und die Perversion und (5) »Narziss wider Ödipus - in Kunst, Religion und Gesellschaft« und sie beschliesst diesen ersten Teil mit (6) »Zusammenfassende Bemerkungen zu Grundannahmen und Methode«: Chasseguet-Smirgel stelle die archaisch-mütterliche Welt der Perversion und Regression der väterlichen Welt der Zeugung und des Denkens gegenüber, und sie verurteile rigoros alle kulturellen, sozialen, politischen oder ideellen Phänomene, die nicht bestimmten Wertvorstellungen angepasst sind.

Mit vielen Bezügen belegt A. Moré auch die folgenschwere Vermengung der Gedankengänge von Chasseguet-Smirgel mit den sehr eigenwilligen Grundannahmen ihres Ehemannes Béla Grunberger, und beschreibt deren strikte Verteidigung der »Gesetze des Vaters« in oft gemeinsamen Schriften. Dass beide viele Ideen von Lacan übernommen und eigenwillig weiterentwickelt haben, werde von ihnen verleugnet, da sie Lacans Theorien ablehnen und ihn als Dissidenten verwerfen.

In Teil II des Buches, unter dem Titel »Kontrapunkte«, arbeitet A. Moré die nur selektive Verwendung der Theorien von S. Freud, M. Klein und anderer Autoren heraus und weist auf die Konsequenzen hin, die eine Übernahme der Theorien von Chasseguet-Smirgel für die Psychoanalyse hätte: Ihr von der Freudschen Psychoanalyse abweichendes Verständnis des Narzissmus und der Primärphantasien, ihre Universalisierung des regressiven Bedürfnisses nach Rückkehr in den Mutterleib, die damit verbundene Entwertung der Mutterimago und die Idealisierung der genitalen Vaterimago würden zu einer Dichotomisierung der libidinösen Objekte und der Geschlechter und der Polarisierung von Normalität und Pathologie führen. Damit sei der Weg geebnet zu einer moralistischen Beurteilung, anstelle psychoanalytischen Verstehens, zu deterministischen und diskriminierenden Klassifizierungen, anstelle klinischer Beschreibungen.

Aus der Fülle der von der Autorin A. Moré akribisch herausgearbeiteten Positionen von Chasseguet-Smirgel sollen hier nur ihre Überlegungen zu einigen immer wiederkehrenden problematischen Grundpfeiler des Denkens und Argumentierens von Chasseguet-Smirgel herausgegriffen und kurz wiedergegeben werden, an denen sie zeigt, wie sie im Widerspruch zur Freudschen Psychoanalyse stehen und teilweise Neuschöpfungen sind:

Axiomatische Bedeutung für Chasseguet-Smirgel habe das von Grunberger übernommene Konzept der Neotenie (ein zoologischer Begriff, der den Eintritt der Geschlechtsreife im Larvenstadium bezeichnet), die unhinterfragbare Setzung angeborener unbewusster Phantasien und eines unbewussten Wissens über die sexuelle Wahrheit, das die Kenntnis von den Geschlechterdifferenzen und –funktionen ebenso umfasse wie ein voll ausgebildetes inzestuös-sexuelles Verlangen, mit männlichem Zeugungswunsch und weiblichem Wunsch zur Mutterschaft, bei angeborener Heterosexualität. Ebenfalls von Grunberger habe sie die Vorstellung übernommen, der Mensch sehne sich ab Geburt unaufhörlich zurück in den Mutterleib und müsse diese universale perverse Neigung zur regressiven Verschmelzung ständig bekämpfen. Dieses regressive Verlangen werde erst beendet mit dem Erreichen des reifen Ödipus, was bei Chasseguet-Smirgel allerdings nicht ein integrierender Entwicklungsprozess sei, sondern der Gegenpol zur archaisch-mütterlichen Welt der Symbiose: Der Penis des Vaters, das »Objekt der Objekte«, sehe Chasseguet-Smirgel in seiner Objekt-Funktion als die Grenze, die sich zwischen den Wunsch des Kindes nach Rückkehr in den Mutterleib und seine Verwirklichung schiebe. Damit stehe der Vater für das Realitätsprinzip, das die Anerkennung des Lebens und seiner Entwicklungsgesetze beinhalte. Dies mache ihn zu einem Repräsentanten des Lebenstriebes und zum Retter vor dem Todestrieb (der in dieser Konzeption ein Element der Mutterimago sei).

Wenn Chasseguet-Smirgel vertrete, dass alle Wege zur gesunden psychischen Reifung von der Mutter weg zum Vater führen müssen und jede Annäherung an die Mutter den Vollzug des Inzest bedeute, hebe sie in ihren Folgerungen den qualitativen Unterschied zwischen realem und imaginärem Inzest auf und verwische die Grenze zwischen Imaginärem und Realem, zwischen Phantasien und Handlungen.

Die Perversion schildere Chasseguet-Smirgel als bewussten und intentionalen Akt, als Rebellion gegen das universale Gesetz des Ödipuskomplexes: Der Ödipuskomplex werde umgangen, wenn die väterliche Überlegenheit geleugnet werde, und damit eröffne sich der kurze »perverse« Weg, der durch die Illusion einer unmittelbaren Wunscherfüllung gekennzeichnet sei. Der Perverse habe sich, in Identifikation mit der analen Mutterimago, für die Illusion und die Verleugnung der Wahrheit entschieden, um sich als neuen Schöpfer an die Stelle Gottes zu setzen.

Dieses sehr eigenwillige und mit anderen psychoanalytischen Perversionskonzepten nicht korrelierbare Verständnis von Perversion übertrage Chasseguet-Smirgel auch auf ausserklinisches Material: Gesellschaftliche, wirtschaftliche, soziale und kulturelle Prozesse und ihre soziokulturellen und institutionellen Manifestationen würden, ausserhalb jeglichen sozialen Kontextes, entweder als authentisch und wahr bezeichnet, wenn sie Recht, Ordnung, Gesetz und Vernunft vertreten, oder, in einer Dichotomisierung, als falsch und pervers, destruktiv und subversiv, wenn sie Veränderung der gesellschaftlichen Bedingungen anstreben oder religiöser Art sind. Einzige Ausnahme bilde nach Chasseguet-Smirgel das Judentum, aufgrund seiner Achtung des Vaters und seines Gesetzes, wohingegen das Christentum – der universell existierenden perversen Neigung folgend – die Einheit von Mutter und Sohn dem Prinzip des Vaters vorziehe und damit den archaisch-destruktiven Strukturen der Analität Vorschub leiste, wie sie z.B. der Antisemitismus verkörpere. Abspaltungen, wozu das Christentum gehöre, wie auch psychoanalytisches und anderes »Dissidententum«, müsse dorthin führen, wo »die Mutter, die Mystik, die Ideologien und die Verrücktheiten herrschen«. Ebenso verbinde sie die grossen Utopien, wie Marxismus, Kommunismus, »die Grünen«, in gleicher Weise wie der Nazismus, mit Regression, Perversion, Wahn und Antisemitismus - als Ausdruck der »analen Sphinkter-Falle der Vernichtung«, die die Sehnsucht nach der mütterlichen Verschmelzung bewirke.

A. Moré beschliesst ihre Arbeit mit Teil III »Psychoanalyse als jüngstes Gericht? Urteil und Verstehen in der Psychoanalyse«: Hier hält sie Chasseguet-Smirgel entgegen, dass sie eine Pervertierung und Psychiatrisierung aller individuellen und gesellschaftlichen Phänomene vorantreibe, mit der ihr eigenen »Zwei-Welten-Strategie« und der Illusion einer möglichen Trennung von Gut und Bös, von Wahr und Falsch, von Pathologie und Normalität – mit den verheerenden Folgen einer gesellschaftlich reaktionären Psycho-Dogmatik und innerhalb eines Systems, das die fortwährende Bestätigung seiner selbst zur Folge haben müsse. Zweifel, Disput, Skepsis und jeglicher Wunsch nach gesellschaftlicher Veränderung würden für Chasseguet-Smirgel (und Grunberger) Angriffe auf den zeugenden Penis des Vaters. Am deutlichsten erscheine diese Haltung in den unter dem Pseudonym »André Stéphane« gemeinsam mit Grunberger veröffentlichten Schriften, die sie in Reaktion auf und Verurteilung der Mai 68-Studentenunruhen verfassten. A. Moré weist nach, dass beide im Buch »L’Univers contestationnaire ou Les nouveaux chrétiens« (1969) in ihrer drastischen Sprache die Studentenunruhen als präödipale Zerstörungs-Szenarios bezeichnen: Die Fäkalisierung der Welt und die letztendliche Identifikation mit der sadistisch-analen Mutter seien zwei zusammengehörige Aspekte in einem Finale, das in der revolutionären Zerstörung der Welt durch die Linken seine reale Apokalypse finde.

Zum Schluss stellt A. Moré die Frage, wie angesichts des psychoanalytisch fragwürdigen und gesellschaftspolitisch reaktionären Denkens J. Chasseguet-Smirgel grosse internationale Anerkennung finden konnte – auch wenn kritische Stimmen nicht fehlten. A. Moré erklärt das Verführerische ihrer Theorien einleuchtend mit einer scheinbaren grossen Erklärungsplausibilität und der Illusion einer möglichen Trennung von Normalität und Pathologie: Wie eine Folie würden sich ihre Erklärungskonzepte über bestimmte Einzelschicksale ziehen lassen – allerdings ohne spezifische Entwicklungsbedingungen, hochindividuelle Konfliktlösungen und menschliches Leiden anzuerkennen, geschweige denn zu respektieren. Damit werde aus psychoanalytischem Verstehen aber wertende Vereinnahmung der »Wahrheit«, innerhalb eines geschlossenen Erklärungssystems.

A. Moré hat nicht nur alle verfügbaren Schriften Chasseguet-Smirgels einer gründlichen Analyse unterzogen und hat deren Neuschöpfungen, Entstellungen und Umdeutungen aufgedeckt, sondern hat auch durch eigene Reflexion und sehr anregende Diskussion der Haltungen anderer Autoren einen wichtigen Beitrag zur Rekonstruktion psychoanalytischen Denkens geleistet. In der Auseinandersetzung mit den kulturellen und religionswissenschaftlichen Schriften von Chasseguet-Smirgel zeigt sich die enorme Belesenheit und Denkfähigkeit der Autorin A. Moré: ihre religionswissenschaftliche Passion führt zu einem Höhepunkt des Lesevergnügens – und macht zugleich betroffen über die Irrwege und Kurzschlüsse, denen Chasseguet-Smirgel, oft in Berufung auf Grunberger, in ihrer Verteidigung der »Gesetze des Vaters« erlegen ist.

Durch all diese Qualitäten kommt diesem Buch eine hohe Eigenständigkeit zu, die auf das emanzipatorische Potenzial der Psychoanalyse verweist.

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