Rezension zu Gesichter der ostdeutschen Transformation
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Rezension von Prof. Dr. Hartmut M. Griese
Die DDR existiert schon ein Viertel Jahrhundert nicht mehr, das
Zentralinstitut für Jugendforschung (ZIJ) in Leipzig wurde vor 25
Jahren abgewickelt, aber eine Studie hat überlebt – die »Sächsische
Längsschnittstudie«, die 1987 unter der Leitung (»Studienvater«)
von Peter Förster im ZIJ ins Leben gerufen wurde. Seit dieser Zeit
begleitet die Studie ostdeutsche Menschen, damals Jugendliche im
Alter von 17/ 18 Jahren (1987: 1407 SchülerInnen aus 72 Klassen an
41 Schulen der Bezirke Leipzig und Karl-Marx-Stadt, die zumeist
1973 geboren wurden), heute Personen in der mittleren Lebensspanne
(zuletzt noch 328 Probanden), auf ihrem Lebensweg. Mittlerweile
(2013/ 2014) sind insgesamt 27 »Wellen« abgeschlossen wurden und
ein Ende ist nicht abzusehen – eine einzigartige
sozialwissenschaftliche Studie mit ungeheurem Erkenntnispotential
für die Jugend-, Lebenslauf-, Sozialisations- und
Transformationsforschung. Etliche Buchpublikationen und Aufsätze
haben über die jeweiligen Ergebnisse und den Erkenntnisstand der
Studie berichtet. Ich selbst habe z.B. zwei größere Werke dazu bei
socialnet.de rezensiert (Förster 2002 und Berth u.a. 2012). Dort
lassen sich die Rahmenbedingungen sowie weitere Einzelheiten über
diese einmalige empirische Längsschnittforschung nachlesen.
Herausgeber
Die Herausgeber sind identisch mit denen von 2012 und arbeite(te)n
an den Universitäten Dresden, Leipzig und Zittau/ Görlitz als
Medizinpsychologen und -soziologen sowie in der
Gesundheitswissenschaft und haben die Leitung der Studie von Peter
Förster übernommen, der mittlerweile weit über 80 Jahre alt ist. Im
Buch sind 15 Portraits bzw. »Berichte der StudienteilnehmerInnen«
abgedruckt, so dass diese hier auch als »AutorInnen« bezeichnet
werden sollen, da es sich zumeist um authentisches Material aus
Aufsätzen zu vorgegebenen Themen handelt.
Aufbau
Nach dem Vorwort der Herausgeber (S. 9-15) folgen drei allgemeine
Beiträge über Grundsatzinformationen zur »Sächsischen
Längsschnittstudie« (S. 17-27; Hrsg. plus Peter Förster!), eine
Zusammenfassung der Hrsg. zu »Zentrale Ergebnisse aus 28 Jahren …«
(S. 29-43) sowie zuletzt eine Diskussion »Wie repräsentativ sind
die Daten …?« (S. 45-62; Hrsg. plus David Richter und Gert G.
Wagner).
Sodann folgen die 15 Portraits/ Berichte in alphabetischer
Reihenfolge der Familiennamen, wobei die Leser jeweils über zwei
Fotos (aus der Jugendzeit zu Beginn der Studie und aktuell) sowie
die wichtigsten Sozialdaten (Geburtsort und -jahr, Beruf, Wohnort,
Familie und Hobbies) sich einen ersten Eindruck von den Personen
machen können.
Der wohl interessanteste Beitrag folgt dann abschließend, ein im
Original abgedruckter »Forschungsbericht zu den ersten beiden
Wellen der Studie« aus dem Jahre 1988 (!) zu »Entwicklungstendenzen
ideologischer Haltungen und der Aktivität der FDJ« von Peter
Förster und Mitarbeitern, der schon allein wegen der dort
gebräuchlichen Terminologie sowie den äußerst kritischen
Anmerkungen heute und vor allem für Wissenschaftshistoriker
lesenswert ist.
Inhalt und Erkenntnisse
Erwähnenswert sind die Entwicklungen und Veränderungen der
Einstellungen, Werthaltungen und Meinungen der untersuchten
StudienteilnehmerInnen, worüber exemplarisch berichtet wird (S.
29ff), da in den 28 Jahren »mehr als 5000 verschiedene Fragen
gestellt« wurden. Die Absatzüberschriften geben die Auswahl der
Themen und/ oder die Interpretation der Hrsg. wieder:
»Große Zustimmung zur deutschen Einheit«; (S. 30), die
Selbstwahrnehmung der Probanden zu der Frage »Wer sind die
GewinnerInnen der deutschen Einheit?« (S. 31 – »VerliererInnen«
sind demgemäß Frauen, Menschen mit »erlebter Arbeitslosigkeit«,
Verbleib im Osten und »Netto-Einkommen unter 2000 Euro«);
»Was bleibt von der DDR?« (S. 33 – vor allem ein »Normalzustand«
mit »Doppelidentität« als DDR-BürgerIn und BürgerIn der
Bundesrepublik);
»Wachsen Ost und West zusammen?« (S. 37 – ein Viertel meint auch
nach 25 Jahren, dass die »Unterschiede zwischen Ost und West
überwiegen«);
»Wie viel Zeit braucht die innere Einheit?« (S. 39 – Tendenz: »Die
erwartete Zeit bis zur tatsächlichen Einheit schiebt sich somit von
Jahr zu Jahr immer weiter nach hinten« und »nur 17 Personen (5,3 %)
… gehen davon aus, dass die innere Einheit bereits vollzogen
ist«).
Was bleibt rückblickend hinsichtlich der psychosozialen Folgen für
die zur »Wendezeit« typischen Jugendlichen festzuhalten (S. 41f)?
»Die Befragten haben ihre Identität als ehemalige DDR-BürgerInnen
nicht aufgegeben«; es besteht überwiegend eine »Doppelidentität«
und eine »tatsächliche Wiederherstellung der inneren Einheit« wird
erst zukünftig gesehen.
Für das Autorenteam gilt: »Insgesamt gesehen bleibt aus unserer
Sicht aber das Ergebnis, dass sich die Wahrnehmung der deutschen
Einheit seit 1990 deutlich positiv entwickelt hat. Die Daten sind
ein ermutigendes Zeichen für den ostdeutschen
Transformationsprozess und die Annäherung zwischen Ost- und
Westdeutschen« (S. 42). Das »Ganze« kann man auch anders sehen –
ich komme darauf zurück.
Die Studie kann ursprünglich als repräsentativ bezeichnet werden,
jedoch ist der verbleibende Rest von 328 Personen der ehemals 1407
Probanden durch folgende Merkmale charakterisiert, die eine
methodische Schieflage zur Folge haben: mehr Frauen, mehr
»politisch Interessierte«, höher gebildete Menschen sowie
motovierte und optimistische BürgerInnen. Dies wird auch
verstärkend bei der Auswahl (das Kriterium dafür blieb mir unklar)
der 15 Personen für die »Berichte der StudienteilnehmerInnen«
deutlich, deren Portraits dann quasi als Hauptteil des Buches
folgen (S. 65-140) (9 Frauen und 6 Männer; überwiegend Abitur und
Studium; als Wohnort geben zwei das europäische Ausland an (!),
fünf wohnen in Süddeutschland (!) und zwei weitere in Berlin bzw.
Potsdam (!), so dass etwa die Hälfte der 15 ProbandInnen sich
gegenwärtig nicht mehr in Ostdeutschland aufhalten).
Vorgegebene Fragen waren:
»Warum nehme ich immer noch an der Studie teil?«;
»Was hat mir an der DDR gefallen?«;
»Was hat mir an der DDR nicht gefallen?«;
»Was gefällt mir heute am besten?«;
»Was gefällt mir heute nicht?«.
Ferner wurden teilweise Aussagen qualitativer Art aus früheren
Wellen (vor allem 1990/ 91 und 1994) herangezogen sowie
schwerpunktmäßig die kurzen Aufsätze zu den 2015-Fragen bzw.
Bitten, insbesondere zu:
»Wie denken Sie heute allgemein über die Wiedervereinigung?«.
Ferner gab es extrinsische Schreibmotivationen wie:
»Bitte schildern Sie eine für Sie besonders wichtige/ einprägsame/
lustige Begebenheit in Zusammenhang mit der deutschen Einheit«;
»Viele Westdeutsche behandeln uns Ostdeutsche als Deutsche zweiter
Klasse«; »Ich bin froh, die DDR noch erlebt zu haben«;
»Es war nicht alles falsch, was wir in der Schule über den
Kapitalismus gelernt haben«.
Die Autoren verzichten bewusst auf eine Diskussion und/ oder
Interpretation der Aufsatzpassagen und lassen die Texte
unkommentiert für sich sprechen. Das vorliegende Buch hat keinen
wissenschaftlichen Anspruch. So kann jeder Leser sich quasi die
Aussagen rauspicken, die für seine Sicht der Dinge bzw.
Konstruktion der Wirklichkeit passend, viabel und anschlussfähig
sind. Die Auswahl von Zitaten (auch von 1990, 1994) als Überschrift
zu den 15 Berichten gibt jedoch in etwa die intendierte Richtung
an, z.B.:
»Die Wiedervereinigung war richtig und gut« (S. 65);
»So viel Freiheit war ich nicht gewohnt« (S. 69);
» … weil dieser Umbruch viel zu schnell geht« (1990, S. 73);
»Westdeutsche glauben immer noch, dass alle aus dem Osten doof
sind« (1994, S. 79);
»Die DDR bleibt ein Teil der Generation Wende« (S. 83);
»Die Reisefreiheit ist die große Errungenschaft« (S. 95);
»Wir haben in der DDR nicht schlecht leben müssen« (S. 99);
»Zur Wiedervereinigung gab es keine Alternative« (S. 105);
»Es war nicht alles schlecht, genau wie heute« (S. 119);
»Umbruch einer unvorbereiteten Gesellschaft« (S. 131);
»Dank der Wende konnte ich meinen Traum zum Beruf machen« (S.
135).
Wenn ich jetzt einige Sätze aus den Berichten gemäß meiner
Intention »Was ist aus der Sicht der Wende-Generation schief
gelaufen?« zitiere, dann verfolge ich damit eine Kritik an der
Auswahl der Überschriften, aber vor allem an der Politik der
Wiedervereinigung:
»Ärgerlich ist aber immer noch, dass es für gleiche Arbeit
unterschiedliche Einkommen gibt« (Lehrerin!);
»Genau genommen leben wir in einer globalen Diktatur der
Wirtschaft« (Fotograf, Augsburg);
»Die Menschen in Ostdeutschland sind heute vermutlich genauso
frustriert wie damals … in dem neuen ›Geld-regiert-die
Welt-System‹« (Diplom-Betriebswirtin, Zwickau);
» Einfach abzuwickeln … Das verdient dann nicht den Namen
Wiedervereinigung, sondern Annektion« (Informatikerin,
Rodewisch);
»Was gefällt mir heute nicht? Lobbyismus und direkter Einfluss der
Wirtschaft auf die Politik … Sozialstaat-Abbau, Verklärung des
Begriffes Freiheit … Der politische Druck ist dem wirtschaftlichen
Druck gewichen. Der Mensch ist frei, aber nur im Rahmen seiner
wirtschaftlichen Möglichkeiten … Die Schere zwischen arm und reich
geht ständig weiter auseinander« (Ingenieur,
Ginsheim-Gustavsburg);
»Viel Negatives vom Westen übernommen … alles Positive aus dem
Osten abgeschafft … Es wurde mir zu viel zerstört, was in der DDR
doch positiv war« (Verwaltungsangestellte, Bayern!);
»Die Wiedervereinigung ging einfach zu schnell … Ich kehrte nach
England zurück, wo ich mich inzwischen mehr zu Hause fühlte … Trotz
allem fühle ich mich auch heute noch als Bürgerin der ehemaligen
DDR« (Juristin, Wales/ Großbritannien!);
»Was hat mir in der DDR gefallen? Geborgene Kindheit, ohne
Zukunftsangst, soziale Sicherheit für alle, Kinderbetreuung von
Krippe bis Hort, keine Kriminalität, Förderung von Familie und Frau
(z.B. Haushaltstag) … Kapitalismus ist doch nichts, für das man
einstehen kann, die Ellbogengesellschaft« (Datenbank-Analystin,
Tutzing/ Starnberger See!);»Viele gute Dinge der DDR, wie das
Bildungssystem, das Gesundheitssystem, der Umgang mit Familie und
Kindern, die Vereinbarkeit von Familie und Beruf (um nur eine
Auswahl zu nennen) wurden über Bord gekippt. Es entstand mehr der
Eindruck einer ›Wiedervereinnahmung‹ als einer Wiedervereinigung«
(Diplom-Ingenieur, Bayern!);
»Man sieht heute immer noch, dass wir zwei Republiken sind … Im
Grunde haben wir über genau das den Kapitalismus gelernt, was uns
nachher serviert wurde … Im Grunde war der Systemwechsel ein
gesellschaftlicher Rückschritt« (Betriebswirtin, Südhessen!);
»Wesentliche Errungenschaften einer sozialistischen Idee gingen
ohne Chancen auf Erhalt unter … Wir werden über verschiedene Kanäle
medial manipuliert« (Abteilungsleiter, Potsdam!).
Ich lasse die Aussagen ebenfalls ohne Kommentar so stehen und für
sich sprechen.
Als Randnotiz sei noch erwähnt, dass es »erstaunlich ist, dass etwa
ein Drittel der heute ca. 42-jährigen TeilnehmerInnen nicht über
eine eigene E-Mail-Adresse verfügt und nach wie vor den klassischen
Papierfragebogen bevorzugt« (S. 23) – technische Rückständigkeit
oder kritische Distanz zur Ausspionierung durch die neuen
Medien?
Der »wertvollste« Text im vorliegenden Band ist zweifellos das
Original des Forschungsberichts von 1988, zu dem angemerkt wird:
»Dieser bislang unveröffentlichte Bericht entstand im Dezember 1988
als Schnellinformation/ Dienstsache über die Ergebnisse der ersten
beiden Wellen der Studie. Er wird hier unverändert wiedergegeben«
(S. 143). Der Text zeigt schonungslos und kritisch sowie in einer
ambivalenten bzw. situationsadäquaten Sprache die Lage der jungen
Menschen gegen Ende der DDR und dokumentiert gleichzeitig die
Probleme einer systemkritischen Jugendforschung, wie sie am ZIJ
praktiziert wurde, weshalb dieses nicht selten in harten
Auseinandersetzungen mit der SED-Führung bzw. dem Ministerium von
Margot Honecker stand. U.a. werden in dem Text angesprochen: »die
nach wie vor ungenügenden Möglichkeiten der Schüler zur
demokratischen Mitgestaltung des Lebens« (S. 149), »dass in der 9.
Klasse nur noch 38 % (6 % sehr stark) zustimmen, dass der
Marxismus-Leninismus ihnen hilft, sich richtig im Leben zu
orientieren« (S. 150). Da ist die Rede von »sehr ernsten Signalen«
und von »erheblichen Defiziten«,, von einer »Abschwächung der
Identifikation mit der DDR« (S. 152) und einer »zwingenden
Notwendigkeit« zum Nachdenken über die Realität. Konstatiert wird
quasi als Zusammenfassung, »dass Möglichkeiten zur demokratischen
Mitgestaltung des Lebens im politisch organisierten Kollektiv den
Mitgliedern nach wie vor zu wenig erlebbar gemacht werden« (S. 165)
und dass »die Festlegungen der 8. Zentralratstagung nach wie vor
nur ungenügend realisiert« sind (S. 168) – ein auch und vor allem
nach 25 Jahren deutsche Einheit lesenswerter Text über das irre
Verhältnis von Wissenschaft (Theorie und Empirie) und Politik
(Praxis und Realität) in der DDR, über den dadurch notwendigen
Spagat einer kritischen empirischen Jugend- und Sozialforschung
bzw. über den Balanceakt des systemkritischen ZIJ in der
Auseinandersetzung mit der Parteiführung, der dokumentiert, dass
auch die abrupte und chancenlose Abwicklung des ZIJ ein nicht
wieder gutzumachender Fehler der deutschen Einheit war.
Diskussion und Kritik
Ich denke, es wird überdeutlich, wo aus Sicht der gut
(aus-)gebildeten und zumeist kritisch denkenden 15 Probanden der
Schuh der Wiedervereinigung drückt. Wenn man, wie es die
Herausgeber machen, die Aufsatzmaterialien unkommentiert und ohne
Interpretation oder Zusammenfassung (wie noch bei den Befragungen
geschehen; vgl. oben) stehen lässt, besteht das Problem der
selektiven und subjektiven Wahrnehmung, wie z.B. bei meiner
Auflistung der einheitskritischen Äußerungen. Im Vorwort werden
derlei Meinungen von den Herausgebern auch kurz angesprochen, wenn
sie konstatieren (S. 12): »Die Mehrheit sagt jedoch auch, dass es
erhaltenswerte Dinge (!? H.G.) gegeben hätte, die heute vermisst
werden … Bildungssystem … Familienpolitik … soziale Sicherheit« –
eine Diskussion und/ oder Interpretation der Aufsatzaussagen über
diese »Dinge« bleibt, wie erwähnt, aus. Die Portraits und die
Aussagen der Probanden bleiben im theoriefreien Raum stehen und
sollen wohl für sich sprechen oder eben selektiv gelesen werden –
m.E. wurde hier eine Chance vertan, die unterschiedlichen
subjektiven Verarbeitungen und biographisch-psychisch vielfältigen
Auseinandersetzungen mit den ambivalenten Folgen der deutschen
Einheit näher zu analysieren, um daraus z.B. forschungsleitende
Hypothesen für weitere Studien zu entwickeln.
Zur angewandten Methode, ihre Vor- und Nachteile, ihr
methodologischer Stellenwert oder Probleme der Auswertung etc.,
nämlich »kurze Aufsätze (ca. 200 bis 500 Worte)« (S. 10) zu
mehreren vorgegebenen inhaltlichen Themen zu verfassen, erfährt man
nichts. Dies finde ich bedauerlich, da das empirische Instrument
der Aufsatzforschung einerseits recht alt ist (aus den 1920er
Jahren der Jugendforschung), andererseits selten verwendet wird und
in keinem Hand- oder Lehrbuch erwähnt wird, obwohl es m.E. äußerst
produktiv zur Generierung qualitativer Daten geeignet ist (vgl.
Näheres zur Methode, ihres Ursprungs und ihrer Anwendung in Griese/
Sievers/ Schulte 2007, S. 115ff).
Forschungen zur deutschen Einheit und ihren psychosozialen Folgen
sind, das haben die letzten 25 Jahre gezeigt, zumeist stark von
subjektiver und selektiver Wahrnehmung und biographischen
Erfahrungen der WissenschaftlerInnen geprägt. Dies erwähnen auch –
undiskutiert – die Herausgeber: »Ähnlich ist es in der Auswertung
der Daten, die immer auch von subjektiven Annahmen der
Forscherpersönlichkeiten beeinflusst werden. So gibt es einige
Publikationen vom Studienvater Peter Förster, die sich im
Schwerpunkt auf die negativen Folgen des
Wiedervereinigungsprozesses konzentrieren und das auch im Titel
andeuten, z.B. ›Junge Ostdeutsche heute: Doppelt enttäuscht‹« (S.
24/25). In anderen Worten: Auf die Perspektive (Interessen und
Ideologie) kommt es an, und ein Forschungsteam sollte mit Blick auf
ihre Biographien pluralistisch und heterogen zusammengesetzt sein
(vgl. dazu auch unsere Kritik an der deutsch-deutschen
Jugendforschung Anfang der 1990er Jahre in Bolz/ Griese 1995 oder
die Studie von Mayer/ Schulze 2010 zur »Wendegeneration«).
Mein Wunsch wäre, dass das hochinteressante und
erkenntnisgenerierende Aufsatzmaterial in Qualifikationsarbeiten an
Universitäten oder in weiteren Studien ausgewertet und theoretisch
interpretiert wird und dass der Methode der Aufsatzforschung
dadurch mehr Aufmerksamkeit geschenkt wird. Kaum eine andere
empirische Methode ist (ähnlich dem narrativen Interview) so offen
angelegt, generiert so authentisches qualitatives Datenmaterial und
liefert derlei überraschende Ergebnisse, Einsichten und
Erkenntnisse. So stammt z.B. auch der Titel unserer Studie »Wir
denken deutsch und fühlen türkisch« (Griese/ Sievers/ Schulte 2007)
aus einem Aufsatz einer Probandin.
Fazit
Das Buch ist eine Fundgrube für alle, die Interesse haben an
authentischen und kritisch-reflexiven Äußerungen von ehemals
DDR-Jugendlichen, die im Zenit der Jugend mit 17-18 Jahren den
Mauerfall und die Jahre danach erlebt haben und ihre Erfahrungen,
die dann generationsprägend wurden, verarbeiten mussten und dies in
ihren Äußerungen und Aufsätzen retrospektiv dokumentieren.
Ob sich auch PolitikerInnen finden, die das Buch zur Hand nehmen,
die Texte und Portraits sowie das Originaldokument von 1988
studieren, wage ich zu bezweifeln – zu wünschen wäre es, auch in
deren eigenem Interesse zum besseren Verständnis der jüngeren
deutschen Geschichte (vgl. dazu aktuell unseren Reader Schrader et
al 2015).
Hartmut M. Griese. Rezension vom 08.12.2015 zu: Hendrik Berth,
Elmar Brähler, Markus Zenger, Yve Stöbel-Richter (Hrsg.): Gesichter
der ostdeutschen Transformation. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer
der Sächsischen Längsschnittstudie im Porträt. Psychosozial-Verlag
(Gießen) 2015. ISBN 978-3-8379-2536-4. In: socialnet Rezensionen,
ISSN 2190-9245, http://www.socialnet.de/rezensionen/19389.php
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