Rezension zu Neue Störungsbilder - Mythos oder Realität?

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Rezension von Dr. Ulf Sauerbrey

AutorInnen

Joachim Heilmann, Dipl.-Päd., Psychoanalytischer Pädagoge sowie Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut, ist Leiter der Fachstelle für Kinder psychisch kranker Eltern der Stiftung Waisenhaus in Frankfurt. Prof. Dr. Annelinde Eggert-Schmid Noerr, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin, Gruppenanalytikerin und Supervisorin, ist Vorsitzende des Frankfurter Arbeitskreises für Psychoanalytische Pädagogik (FAPP). Ursula Pforr, Dipl.Päd., M.A., Psychoanalytische Pädagogin und Vorstandsmitglied im FAPP, arbeitet im Darmstädter Forum für psychoanalytische Heilpädagogik und Soziale Arbeit.

Entstehungshintergrund

Was Menschen stört, hängt in der Regel ab von ihrem jeweiligen Empfinden und Erleben. Störer und Gestörter müssen sich zur erfolgreichen Lösung eines durch Störung bedingten Konflikts miteinander auseinandersetzen. Was nun mit Blick auf die alltägliche Konfliktlösung so einfach klingt, ist bei der institutionalisierten Störungskonstruktion, wie sie etwa durch ICD- und DSM-Kriterienkataloge geschieht, höchst komplex. Angelegt auf eine fachlich neuesten medizinischen Forschungsergebnissen entsprechende Diagnostik dienen diese Kriterienkataloge zur Einordnung von Krankheiten bzw. psychischen Störungen und bieten somit die wissenschaftliche Basis der erfolgreichen Behandlung der von Krankheit oder Störung betroffenen Menschen. Ziel ist dabei die Herstellung oder Wiederherstellung von Gesundheit als Zustand körperlichen und bzw. oder psychischen Wohlbefindens. Doch an eben dieser Stelle – beim Wohlbefinden – regt sich Kritik (im ursprünglichen griechischen Sinne des κρίνειν: unterscheiden, trennen) an den diagnostischen Katalogen – eine Kritik, die bislang vor allem durch die Psychoanalyse formuliert und in dieser diskutiert wurde (vgl. etwa: Leuzinger-Bohleber 2006 oder auch: Staufenberg 2011). Die Kritik scheint angetrieben zu sein durch die Vermutung, dass die fortlaufend weiterentwickelten Kriterienkataloge menschliches Verhalten derart normieren, dass die Störungskonstruktion in ihr Gegenteil umschlägt und somit das Wohlbefinden von Menschen eher beeinträchtigt anstatt es her- bzw. wiederherzustellen. Werden »normale« Menschen auf diese Weise pathologisiert? Bilden medizinisch-diagnostische Kriterienkataloge reale Störungsbilder ab? Oder handelt es sich bei all den Konstruktionen um Mythen? Um diese und weitere Fragen kreisen die durchaus sehr unterschiedlich angelegten Aufsätze in dem von Joachim Heilmann, Annelinde Eggert-Schmid Noerr und Ursula Pforr herausgegebenen Sammelband, der den Untertitel »Psychoanalytisch-pädagogische Diskussionen zu ADHS, Asperger-Autismus und anderen Diagnosen« trägt. Alle Beiträge beschäftigen sich mit Störungsbildern oder mit deren sozialen Voraussetzungen, wobei zu erwähnen ist, dass einige Autorinnen und Autoren die Störungsbilder stärker grundsätzlich in Frage stellen als andere, die ihren Fokus wiederum eher empirisch-pragmatisch auf die Unterstützung therapeutisch-pädagogischer Praxis ausrichten.

Aufbau

Der Sammelband ist in drei Abteilungen geordnet:

I. Normalität und Abweichung,

II. Störungsbilder im Wandel und,

III. Interventionen und ihre Rahmenbedingungen.

Aufgrund der hohen Dichte an inhaltlichen Themen und argumentativen Zugängen, die der Band versammelt, kann und soll im Folgenden nur eine schlaglichtartige Auswahl, die explizit keiner objektiven Gewichtung, sondern rein subjektiven Gesichtspunkten des Rezensenten folgt, angerissen werden.

Zu I. Normalität und Abweichung:

Die erste Abteilung versammelt grundlegende Beiträge, in denen nach Begriffen und normativen Voraussetzungen von Störungen, besonders im Kindes- und Jugendalter, gefragt wird.

Rolf Göppel untersucht in seinem Beitrag über die Konstruktionen von Kindheit normative und durch das historisch wandelbare Alltagsverständnis geprägte Vorstellungen der menschlichen Lebensphase, die wir (meist zu selbstverständlich) »Kindheit« nennen. Er zeigt in mehreren Zugängen auf, dass und wie Kindheit in der Gegenwart häufig kulturpessimistisch wahrgenommen und beurteilt wird. »Frühere« Kindheiten werden dabei meist vorschnell mit einem »damals-war-es-besser«-Urteil versehen werden. Aus einer solchen – empirisch im Übrigen gut widerlegbaren – These, die vergangene Kindheiten verklärt, werden schließlich öffentliche Debatten über Erziehung und Bildung gespeist.

Der für seine ADHS-Kritik bekannte Autor Hans von Lüpke widmet sich im Anschluss den vermeintlich vorrangig organischen Ursachen des derzeit am häufigsten diagnostizierten Störungsbildes im Kindes- und Jugendalter in Deutschland: der Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung. Er liefert, u.a. mit Blick auf das neue DSM-V, anregende Gedanken zur »Klärung der Voraussetzungen für die Erstellung des Konstrukts Diagnose« und weist schließlich darauf hin, dass Diagnosen »grundsätzlich Angaben über Defizite« (S. 60) sind, die ihrerseits bereits Macht ausüben. In der Folge werden klassifizierte Symptome – etwa der ADHS – nicht als Formen der Bewältigung von Situationen durch Menschen in modernen Gesellschaften verstanden, sondern vielmehr als Teil des diagnostizierten Konstrukts. Kurzum: Störungen und Krankheiten werden nominal festgelegt, anstatt zunächst einmal deskriptiv zu erkunden, in welcher individuellen Lebenslage welche Verhaltensweisen wie bedingt wurden.

Zu II. Störungsbilder im Wandel

Die zweite Abteilung des Sammelbandes enthält Aufsätze, die die Entwicklung von Störungsbildern thematisieren, wobei vorab bereits erwähnt werden muss, dass der zu erwartende Wandel von Störungsbildern nur in wenigen Beiträgen überhaupt historisch untersucht wird.

Marianne Leuzinger-Bohlebers Beitrag liegt eine Kasuistik eines muslimischen Spätadoleszenten zugrunde. Den Hintergrund ihrer Untersuchung bildeten die kurz vor Erscheinung des Sammelbandes geschehenen Pariser Anschläge im Januar 2015: Durch islamistische Terroristen waren in der Redaktion der Satirezeitschrift Charlie Hebdo zunächst mehrere Menschen ermordet worden; dem folgten der Mord an einer Polizistin und eine Geiselnahme mit weiteren Morden in einem jüdischen Supermarkt. Die Autorin, eine bekannte europäische Psychoanalytikerin, negiert monokausale Erklärungen für diese Attentate und weist auf den Komplex aus sozialen, religiösen und psychologischen Bedingungen hin, die den Prozess der Identitätsfindung Jugendlicher und junger Erwachsener beeinflussen. Präventive Ansätze gegen einen politisch und/oder religiös motivierten Fundamentalismus samt seiner fortschrittsfeindlichen Ideologien sieht die Autorin besonders in der Frühprävention in Familien mit Migrationshintergrund sowie in der Unterstützung des Soziallebens Betroffener in Schulen. Setzt man gesellschaftliche Normen voraus, so kann und muss auch mit Blick auf den in Europa vorhandenen religiösen Fundamentalismus und Terrorismus von einem neuen Störungsbild gesprochen werden, mit dem sich Pädagogik und Psychoanalyse zu beschäftigen haben.

Manfred Gerspach kritisiert im Anschluss an Hans von Lüpkes Argumentationsgang die zentrale Position organisch-genetischer Erklärungsansätze in der Ursachendiskussion um ADHS. Medizinische Instanzen wie etwa die Bundesärztekammer, aber auch ein Großteil der Forscherinnen und Forscher zur ADHS sprechen mit Blick auf »Ursachen« i.d.R. von Neurophysiologie und Genetik, während psychosoziale Faktoren meist lediglich als »Anlässe« beschrieben werden. Die Frage nach dieser offensichtlich entscheidenden semantischen Markierung durch diese Begriffe blieb bis heute in der ADHS-Ursachenforschung unbeantwortet. Vor diesem Hintergrund sind Gerspachs Kritik an der vermeintlich neurobiologischen und genetischen Determination der ADHS sowie seine Suche nach psychodynamischen Bedingungen der Auffälligkeit nachvollziehbar.

In einem Beitrag über das Burnout-Syndrom diskutiert Annelinde Eggert-Schmid Noerr schließlich das zur regelrechten Modediagnose aufgestiegene Phänomen. Nach einer Skizze der Epidemiologie, der Symptomatik, der Diagnostik sowie der Ursachen und des Verlaufs des Burnouts stellt die Autorin u.a. anhand des zeithistorisch zunehmenden Aufkommens spezifischer Ratgeberliteratur spannende Thesen zur gesellschaftlich-historischen Entstehung des Syndroms besonders in (post-)modernen Industriegesellschaften auf. Wenn gesellschaftlicher Wandel die zentrale Bedingung für das Phänomen bildete, würde Prävention nicht allein auf individuelle therapeutische oder pädagogische Maßnahmen, sondern besonders auf die gesamtgesellschaftliche Bewältigung und Verbesserung von Lebens- und Arbeitsbedingungen abheben. Burnout wäre dann vor allem ein Thema für Politik und Wirtschaft. Der Beitrag von Eggert-Schmid Noerr, die im Grunde nicht nur psychoanalytisch, sondern vor allem auch soziologisch argumentiert, entwickelt anregende Thesen zu gesellschaftlichen Dynamiken, in denen das Phänomen Burnout in den vergangenen Jahren entstehen konnte, wenngleich seine Abgrenzung zu Depressionen und ähnlichen Störungsbildern sich schwierig gestaltet.

Zu III. Interventionen und ihre Rahmenbedingungen

Die dritte Abteilung des Sammelbandes bildet einen weiteren Perspektivwechsel ab. Zu Wort kommen nun die in der pädagogisch-therapeutischen Praxis Tätigen.

Birgit Wieland stellt Psychoanalytische Sozialarbeit am Beispiel eines Vereins, der eine Ambulanz, ein therapeutisches Heim für Kinder und Jugendliche sowie eines für Erwachsene und eine Schule trägt, vor. Der Blick wird hier weg von den Störungsbildern und hin auf die durch das Verhalten der betreuten Jugendlichen beeinflusste Institution sowie auf das pädagogische und therapeutische Handeln in dieser gelegt.

Christine Tomandl beschreibt die Arbeit des Rudolf Ekstein Zentrums in Wien, das sich als sonderpädagogisches und integratives Zentrum um die Integration von Schülerinnen und Schülern mit sozialen und emotionalen Problemen beschäftigt. Hervorzuheben ist Tomandls Unterscheidung von Störungsbildern einerseits und Erscheinungen dieser andererseits. Lediglich die Erscheinungen von Störungen seien der Autorin nach neu, nicht jedoch die Störungen selbst.

Diskussion

Der Sammelband präsentiert eine beachtliche Bandbreite kritisch-konstruktiver Gedankenanstöße über den diagnostischen Entwürfe und die Realität abweichenden Verhaltens. Die systematische Trennung dieser beiden Kategorien ist aus Sicht des Rezensenten ein Grund, den Band allen therapeutisch, pädagogisch und wissenschaftlich Arbeitenden, die mit Störungsbildern – gleich welcher Herkunft – zu tun haben, zu empfehlen. Neben den oben knapp beschriebenen Störungsbildern finden sich weitere sehr lesenswerte Beiträge über emerging adulthood (von Inge Seiffge-Krenke und Fabian J. Escher), über Autismus (von Joachim Heilmann), über familienspezifische Ursachen von Dissozialität und Gewalt (von Jürgen Wettig), über Depressionen im Kindes- und Jugendalter (von Silke Wiegand-Grefe und Angela Plass), über die Bedeutung von Bindungs- und Mentalisierungsprozessen als Traumaprävention (von Marianne Rauwald) sowie über das soziale »Unbewusste« als Organisationsparadoxon (von Benjamin E. Bardé).

Die im Band immer wieder von den Autorinnen und Autoren aufgegriffene psychoanalytische Perspektive des Erlebens, das nun einmal nicht ohne historisch und kulturell gewachsene Einflüsse (Menschen- bzw. Kindheitsbilder, Medizingeschichte, kulturelle Normen) stattfinden kann, bietet eine fruchtbare Basis zur Diskussion der Entstehung, Entwicklung und Manifestierung sozialer Taxonomien, die menschliches Verhalten in modernen Gesellschaften einordnen und etikettieren. Dass die Psychoanalyse seit Sigmund Freud nicht nur individuelle Biographien untersucht, sondern auch kulturtheoretisch forscht, bietet eine geeignete Ausgangsbasis zur konstruktiven Kritik der in modernen Gesellschaften weit verbreiteten diagnostischen Kriterienkataloge. Die mögliche Zunahme der verfügbaren Etikettierungen abweichenden Verhaltens bereitet jedenfalls – mit Freud gesprochen – einiges »Unbehagen«, dessen Voraussetzungen und Gründe die Aufsätze im Sammelband facettenreich diskutieren. Aus dem Dilemma, dass diese Klassifizierungen in der Medizin auf individuelle Hilfe für Betroffene ausgelegt sind und möglicherweise dennoch schaden können, finden sich derzeit allerdings kaum Auswege. Zumindest hilft der Sammelband bei der Erkenntnis über die Ursprünge dieses Zustands; an einigen Stellen werden den professionell arbeitenden Therapeutinnen und Therapeuten Hinweise zum pragmatischen Umgang mit betroffenen Menschen gegeben.

Der Rezensent kann an dem Sammelband kaum nennenswerte Kritik anbringen, eine zentrale bleibt dennoch: Dass der Untertitel von psychoanalytisch-pädagogischen Perspektiven spricht, weckt durchaus die Erwartung, dass die jüngst erschienenen erziehungswissenschaftlichen Beiträge zur ADHS-Debatte (vgl. etwa Becker 2007, Becker 2014; Sauerbrey, Winkler 2011; Sauerbrey 2013) zur Kenntnis hätten genommen werden können. Diese Untersuchungen geben für einen Teil der Positionen im Sammelband von Heilmann, Eggert-Schmid Noerr und Pforr durchaus Argumentationsstützen, wurden jedoch leider an keiner Stelle erwähnt.

Fazit

Ohne das Ordnen und Kategorisieren ist menschliche Entwicklung – ontogenetisch und phylogenetisch – nicht denkbar (vgl. Bowker, Star 2000). Menschliche Kulturentwicklung bedarf jedoch der ständigen Kritik aller sozialen Praktiken, die historisch hervorgebracht wurden. Dinge und menschliches Verhalten in Bildern, Symptomkomplexen und als Störung zu kategorisieren und zu differenzieren, ist zwar Teil dieser Kulturentwicklung. Eine solche soziale Praxis darf jedoch nicht in beliebig zu vergebende Manifestierung oder gar Absolutheit umschlagen. Der von Heilmann, Eggert-Schmid Noerr und Pforr herausgegebene Sammelband bildet daher aus Sicht des Rezensenten einen wichtigen Beitrag zur Kritik der Klassifizierung von ADHS, Autismus und anderen kulturell entworfenen Störungsbildern. Dem Buch bleibt zu wünschen, dass es in eben den medizinisch-psychiatrischen Debatten über diese Störungsbilder nicht nur zur Kenntnis genommen wird, sondern endlich auch zu einer interdisziplinären Diskussion führt. Eine solche fand in den einschlägigen medizinischen Forschungsbeiträgen über ADHS und andere Störungsbilder bislang leider kaum statt.

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