Rezension zu Abenteuer des Zusammenlebens
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Rezension von Dr. Jos Schnurer
Es gibt kein Ich ohne ein Du!
Die Suche nach dem ontologischen Gefüge des menschlichen Daseins
ist ein uraltes Begehren menschlichen Denkens und Forschens, über
alle Zeiten hinweg. Die Anthropologie als das Wissen und die Lehre
vom Menschen ist zwangsläufig darauf angewiesen, gewissermaßen
einen Rundblick einzuüben. Denn die Suche nach den Wesenszügen des
Menschen muss sich an den vielfältigen physischen und psychischen
Grundlagen des anthrôpos, als dem mit Vernunft ausgestattetem
Gemeinschaftslebewesen orientieren. Es sind biologische,
kulturelle, philosophische und politische Fragen, die in der
Anthropologie bedeutsam sind. Die Frage »Was ist der Mensch?« wird
von den verschiedenen Disziplinen unterschiedlich beantwortet. Die
Bedeutung, die dabei den jeweiligen Existenz- und Einflusssphären
zugeschrieben wird, formt auch das individuelle und kollektive
Weltbild.
Entstehungshintergrund und Autor
Bei der Ausdifferenzierung der Wissenschaftsdisziplin als
biologische-, psychologische-, philosophische-, ethnologische-,
soziale-, historische-, theologische- und technische Anthropologie
wird deutlich, dass das »Wissen vom Menschen« mit ganz
unterschiedlichen Fragen und Antworten konfrontiert werden kann;
was im Wissenschaftsbetrieb (zwangsläufig) zu je spezifischen Denk-
und Handlungsformen, etwa bei den sprachlichen Benennungen von
Phänomenen, bis hin zu (logischen) Schlüssen führt. Bei dem
Bemühen, typische, also logische Grundlagen und Methoden für das
Fach (allgemeine) Anthropologie herauszuarbeiten, kommt es zum
einen darauf an, nach dem Gemeinsamen bei den einzelnen
Wissenschafts- und Forschungsfeldern zu suchen, zum anderen eine
Einigkeit darüber zu erzielen, wie eine gemeinsame Conditio humana
verstanden werden soll. So stellt sich die (allgemeine)
Anthropologie (auch) als eine Verbindungs- und
Koordinierungs-Initiative zu den Fragen nach dem Menschen dar – und
sie unternimmt den (abenteuerlichen) Versuch, nach dem Platz der
Gesellschaft im Menschen zu forschen. Damit eröffnen sich zwei
grundlegende, humanwissenschaftliche Zugangsweisen, zum einen
psychologische und zum anderen psychoanalytische. Wie aber kann es
gelingen, über diese fächerbezogenen und -spezifischen
Fragestellungen hinaus das Zusammenleben der Menschen zu
analysieren? Todorov unternimmt dies mit Introspektion, also den
individuellen Blick und mit ihm auf den dialogischen. Im
literarischen Denken sieht er einen gangbaren Weg dazu: »Wer sich
in Form von Geschichten oder poetischen Bildern ausdrückt, entgeht
den Klischees, die das Denken unserer Zeit prägen, oder der
Wachsamkeit unserer moralischen Zensur, die vor allem gegenüber den
Behauptungen ausgeübt wird, die wir explizit formulieren
können«.
Der 1939 in Sofia geborene, französische Wissenschaftler Tzvetan
Todorov, Mitglied der American Philosophical Society und der
American Academy of Arts and Letters, Offizier der französischen
Ehrenlegion, ist einer, der immer wieder über die Tellerränder und
Zäune der Humanwissenschaften schaut und denkt. Es ist das
philosophische und anthropologische Wagnis, die Conditio humana
nicht nur von den Urgründen der Sprach- und Vernunft-, und der sich
daraus ergebenden Leistungsfähigkeit des Menschen her zu denken,
sondern danach zu schauen, welche Bedeutung und Wirkungen das
Bedürfnis nach Anerkennung im individuellen und gesellschaftlichen
Leben der Menschen hat.
Aufbau und Inhalt
Ob das Buch als Substrat, als Subsumtion oder Intermezzo des
interdisziplinären Denkens und Schaffens von Tzvetan Todorov
verstanden werden kann, thematisiert der Lehrstuhlinhaber für
Sozialtheorie und Sozialpsychologie von der Ruhr-Universität
Bochum, Jürgen in seinem Nachwort ausführlich.
Todorov gliedert seinen Versuch über eine allgemeine Anthropologie
in fünf Kapitel.
1. Im ersten wirft er einen »Blick auf die Geistesgeschichte«,
2. im zweiten setzt er sich mit »Sein, Leben, Dasein«
auseinander,
3. im dritten formuliert er »Anerkennung und ihr weiteres
Geschick«,
4. im vierten geht es um die »Struktur der Person« und
5. im fünften um »Koexistenz und Erfüllung«.
Es ist in der Tat eine merkwürdige Entdeckung: In der europäischen
Philosophie über das Humane steht die soziale Dimension als Faktum
des Zusammenlebens der Menschen nicht im Vordergrund. Diese
Einschätzung werden vermutlich die Philosophen zurückweisen, die
sich am antiken, aristotelischen Denken orientierten und
insistieren, dass Aristoteles in seiner Nikomachischen Ethik darauf
hingewiesen hat, dass es die Bestimmung des Menschen sei,
Gemeinschaftswesen zu sein und glücklich nur ein in Gemeinschaft
lebender Mensch genannt werden könne. Doch Todorov verweist zu
Recht darauf, dass diese aristotelische, anthropologische
Betrachtung sich hauptsächlich darauf richtet, dass der zôon
politikon als Individuum als Teil der Polis gilt und »die
Komplementarität des Betrachtenden und des Betrachteten« nicht im
Blick hat; insbesondere bei den nachfolgenden »asozialen
Denkströmungen«, bei Jean-Jacques Rousseau, Adam Smith, Georg
Wilhelm Friedrich Hegel, Nietzsche, bis hin zu Freud und Adler. Es
ist der Kampf, mit dem (Macht) und Anerkennung erreicht werden
soll; dieser Version setzt Todorov ihnen entgegen: »Der Mensch wird
nicht aufgrund eines Kampfes, sondern vielmehr aus Liebe geboren«.
Todorovs Argumentationslinien freilich würden missverstanden
werden, würde man sie auf die kurzschlüssige Ich-Du-Beziehung
reduzieren.
Seine Beweisführung, dass man das Humane nicht auf das dem Menschen
Eigentümliche beschränken dürfe, trägt er weiter, indem er die
Trilogie »Sein – Leben – Dasein« auf ihre philosophischen,
anthropologischen und biologischen Konstanten prüft. Am Beispiel
der (ersten) sozialen Kontakte des Kindes zeigt er die
stufenförmige, prozesshafte Entwicklung auf: Kontakt – Blick –
Manipulation – Gedächtnis/Erinnerung – Sprache; und es ergeben sich
unterschiedliche Formen von Abhängigkeit, Verantwortung und
Lösung.
Welche Gründe und Ausprägungen sich dabei für Beziehungen und
Formen von Anerkennung oder Ablehnung ergeben, diskutiert der Autor
im dritten Kapitel. Er differenziert zwei Formen von Anerkennung;
zum einen die Anerkennung durch Übereinstimmung, zum anderen durch
Unterscheidung. Die sich anbietenden Formen freilich unterliegen
dem Dilemma, oder auch dem Naturell, dass »das Verlangen nach ihr
(der Anerkennung, JS) von Natur aus unerschöpflich ist«, was
bedeutet, dass eine Befriedigung des Bedürfnisses niemals
vollständig oder endgültig sein kann.
Weil bei der Interaktion zwischen dem Ich und einem anderen immer
auch gleichzeitig mehrere Phänomene aktiv sind, kommt es darauf an,
auf die Struktur der Person ein besonderes Augenmerk zu lenken, und
zwar vornehmlich in Richtung auf »die Intersubjektivität der
Person«, und weniger (vorerst) um die Bedeutung des menschlichen
Verstandes und Willens. Die Komplexität dieses schwierigen
Balanceaktes verdeutlicht Todorov, wie auch bei den anderen
Gedankengängen, mit der Analyse einer Passage aus dem Hauptwerk von
Marcel Proust: »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit.« »Das Bild
des Selbst bildet sich und bildet sich um während unseres gesamten
Daseins, aber seine Bestandteile haben nicht den gleichen Wert«.
Mit dieser Unterscheidung zwischen einem archaischen und einem
reflektierten Selbst ergibt sich die Erkenntnis, dass das eine
genau so notwendig und unvermeidlich ist wie das andere. Das
allerdings ist kein Zufall oder eine Sensation, sondern, wie
Todorov verdeutlicht: »Alltag des Daseins, denn wir leben in einer
ständigen Verhandlung mit anderen, und der menschliche Umgang
verlangt die Einberufung und Zusammenarbeit der verschiedenen
Instanzen des Selbst«.
Im letzten Kapitel geht es um Lösungsmöglichkeiten zur »Erfüllung
des Selbst«. Während die Anerkennung durch andere vermittelt und
hergestellt wird, vollzieht sich Erfüllung unmittelbar: »Sie
schließt den Prozess der Anerkennung kurz und enthält in sich ihren
eigenen Lohn«. Ein bisher im philosophischen und
gesellschaftlichen, lokalen und globalen Diskurs eher einseitig
vorgenommenes Habacht wird dabei hervorgehoben: Die Betrachtung,
Wertung und fingerzeigartig gebotene Auseinandersetzung mit den
moralischen Implikationen: »Zwischen dem resignierten Realismus und
dem repressiven Idealismus steht der Weg der Alltagstugenden offen,
die in unserer Reichweite liegen, denn sie bestehen im wesentlichen
in der Sorge für den anderen und die anderen – deren wir in jeden
Fall bedürfen«.
Fazit
In dem 28-seitigen eingangs erwähnten Nachwort zum Versuch von
Tzvetan Todorov, eine allgemeine Anthropologie zu entwerfen und
dabei das Zusammenleben der Menschen als Angelpunkt zu fixieren,
hebt Jürgen Straub hervor, dass der Autor den Menschen »nicht
vornehmlich von seinen spezifischen Vermögen und Leistungen,
sondern eher von dem her (denkt), was er so sehr braucht und worum
sich folgerichtig in jedem Leben fast alles dreht: Anerkennung«.
Dass er dies nicht nur unvoreingenommen, unbekümmert und
selbstsicher grenz- und disziplinüberschreitend tut, spricht dafür,
einen neuen Blick »auf den Werdegang von Individuen (zu werfen),
die mit dem Bedürfnis nach den anderen und deren Blick, nach
Kontakt und Anerkennung zur Welt kommen und zeitlebens darauf aus
sind, es in allmählich komplexer werdenden, stets aber äußerst
vielfältigen Interaktionen zu befriedigen«.
Ob sich daraus eine neue oder alternative allgemeine Anthropologie
entwickeln lässt, oder eine Aufsattelung auf traditionelle Formen
des Bewusstseins vom Menschen hinreichend ist, hängt sicherlich
davon ab, wie es gelingt, auf die aktuelle Entwicklung von
irritierenden, fehlgeleiteten, gefährlichen und
antianthropologischen Tendenzen mit radikalisierten Formen von
Toleranz zu reagieren!
Jos Schnurer. Rezension vom 07.03.2016 zu: Tzvetan Todorov:
Abenteuer des Zusammenlebens. Versuch einer allgemeinen
Anthropologie. Psychosozial-Verlag (Gießen) 2015. ISBN
978-3-8379-2525-8. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245,
http://www.socialnet.de/rezensionen/20386.php
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