Rezension zu Geht die Psychotherapie ins Netz?

www.socialnet.de

Rezension von Prof. Dr. Richard Reindl

Thema

Der Sammelband beschäftigt sich mit dem zwiespältigen Verhältnis der Psychotherapie zum Internet: Kann das Internet ein geeignetes Medium für Psychotherapie sein oder sollte die Psychotherapie nicht »den Lockrufen primär ökonomisch ausgerichteter Krankenkassen widerstehen« (S. 7)? Angesichts der derzeitigen rasanten Entwicklung internetgestützter Präventions- und Interventionsangebote wird in diesem Band versucht, sich der therapeutischen und beraterischen Grundlagen zu vergewissern. Dabei zentrieren sich die Beiträge um die Beschaffenheit einer therapeutischen Beziehung online. Letztlich geht es um die Frage, ob eine internetgestützte Intervention (ohne persönlichen Kontakt zwischen TherapeutIn und PatientIn) grundsätzlich als Heilbehandlung – und damit als abrechenbare Kassenleistung – eingestuft werden kann und welche Bedingungen hierfür gelten.

Herausgeber und Entstehungshintergrund

Herausgegeben wird der Band von Präsidiumsmitgliedern bzw. wissenschaftlichen Referenten der hessischen Psychotherapeutenkammer, die sich im November 2013 auf einer Tagung mit den Herausforderungen der Psychotherapie durch das Internet beschäftigt hat. Die Vorträge dieser Tagung bilden den Kern des vorliegenden Sammelbandes, in dem Befürworter wie Kritiker der Internettherapie zu Wort kommen.

Aufbau

Neben einem einführenden Vorwort gliedert sich der Sammelband in sechs Beiträge. Nach den ersten drei Beiträgen, »in denen Wirksamkeit und Chancen internetbasierter Ansätze zur Prävention, Behandlung bzw. Beratung aufgezeigt werden,« (S. 8) formulieren die nächsten beiden Beiträge stärker die Skepsis zu internetgestützten Interventionen aus verschiedenen Blickwinkeln, während der letzte aus Heft 2 (2011) des Psychotherapeutenjournals nachgedruckte Beitrag die rechtlichen Regelungen zu den Möglichkeiten einer internetbasierten Therapie beinhaltet.

Inhalt

Der erste Beitrag von Thomas Berger bietet einen Überblick über internetbasierte Interventionen bei Angststörungen und Depression. Zunächst werden unterschiedliche Formen internetbasierter Interventionen (S. 12ff.) hinsichtlich des Ausmaßes des therapeutischen Kontakts (von webbasierten Selbsthilfeprogrammen über therapeutengeleitete Selbsthilfeansätze bis zu text- bzw. videokonferenzbasierter Beratung und Therapie), hinsichtlich der Formen des therapeutischen Kontakts (vollständig online vs. blended treatment), hinsichtlich der therapeutischen Ansätze (weitgehend kognitiv-verhaltenstherapeutisch orientiert mit wenigen psychodynamischen Ansätzen) und im Hinblick auf ihre Zuordnung zu den Phasen psychosozialer Versorgung (Prävention, Therapievorbereitung, Therapie, Nachsorge, etc.) verortet. Bei den Besonderheiten internetbasierter Interventionen zeigt Berger auf, dass vermeintliche Nachteile internetbasierter Kommunikation wie physische Distanz und Kanalreduktion durchaus ihren therapeutischen Wert besitzen können (S. 15 f.). Eine internetbasierte therapeutengeleitete Selbsthilfe bei verschiedenen Angststörungen stellt er zur Veranschaulichung des Vorgehens als Fallbeispiel dar, bevor Studien zur Wirksamkeit internetbasierter Interventionen rezipiert werden. Deutlich wird hierbei, dass therapeutenunterstützte Selbsthilfeansätze bei verschiedenen Angststörungen und E-Mail- oder Chattherapien »ähnlich wirksam sind wie traditionelle Face-to Face-Psychotherapien« (S. 22). Bei der Frage nach den Faktoren, die die Wirksamkeit internetbasierter Ansätze beeinflussen, spielen neben der Zugangsschwelle die Therapiebeziehung, die Qualifikation der Therapeuten und der Austausch zwischen den NutzerInnen eine Rolle. Dass internetbasierte Therapien wirksam sind, ist nach Berger mittlerweile geklärt. Forschungsbedarf besteht jedoch in der differenzierten Klärung der Frage, wer am ehesten von der Internettherapie profitiert und wie internetbasierte Interventionen wirken (S. 27). Die beginnende Implementation von internetbasierten Therapien in die Regelversorgung in Deutschland wird nach Berger wohl über die Kombination mit traditionellen Versorgungsansätzen bzw. als blended treatment (also als Mischung zwischen Präsenz- und Internettherapie) erfolgen, wobei auch die Eigenständigkeit internetbasierter Therapien für einen Teil von Patienten gesellschaftlich durchaus sinnvoll wäre (S. 28).

Im zweiten Beitrag von Björn Meyer, Thomas Berger & Steffen Moritz wird das onlinebasierte Patientenprogramm Deprexis ausführlich vorgestellt, das »in den Anfängen seiner Entwicklung zu heftigem Streit zwischen dem Anbieter und der hessischen Psychotherapeutenkammer« (S. 7) geführt hatte. Strittig war die Einordnung von Deprexis als einer Face-to-Face-Therapie gleichwertigen Alternative, die die Kammer mit Verweis auf das Erfordernis einer persönliche Anwesenheit voraussetzenden fachgerechten Diagnostik ausschloss. Deprexis wurde entwickelt als ein internetbasiertes, automatisiertes Patientenprogramm, das auf der Basis kognitiv-verhaltenstherapeutischer Ansätze in zehn Themenbereiche gegliedert ist und innerhalb von drei Monaten abgearbeitet werden kann. Vorgestellte Studien zur Wirksamkeit zeigen, dass die Deprexis-Nutzung signifikant zur Symptomreduktion auch bei schwergradiger Depressivität beiträgt (S. 40). Das Beispiel Deprexis zeigt nach Meyer, Berger & Moritz, dass Online-Patientenprogramme Potenzial für den Einsatz in der therapeutischen Versorgung besitzen. In einigen Ländern wie in den Niederlanden, Schweden und Großbritannien gehören sie zum Standardrepertoire der Depressionsbehandlung. Auch in Deutschland, so die Autoren, erscheint der Einsatz von Deprexis als zusätzliches Element in der Versorgungslandschaft sinnvoll und zu empfehlen, um zur Symptomreduzierung und letztlich zum Patientenwohl beizutragen.

Der dritte Beitrag von Barbara Evangelou & Eduard Hild beleuchtet die Beratungsbeziehung online. Bei der seit 2004 bundesweit angebotenen virtuellen Erziehungsberatung (bke-Onlineberatung) findet mittels eines Softwareprogramms der Kontakt zwischen ratsuchenden Jugendlichen bzw. Eltern mit den Beraterinnen und Beratern ausschließlich im virtuellen Raum statt. Ratsuchende wie Beratungsfachkräfte bleiben über einen Nicknamen anonym. Das kostenlose virtuelle Beratungsangebot beinhaltet sowohl für die Eltern wie für die Jugendlichen eine webbasierte Mailberatung, Gruppenchats, Themenchats, Forum und Einzelchats im Rahmen einer offenen Sprechstunde. Einige erfahrungsbasierte »grundsätzliche Überlegungen zur Existenz und Wirkweise von Beziehungen via Internet« (S. 52) bilden die Hinführung zu den Fallvignetten aus der bke-Onlineberatung für Jugendliche und Eltern. Evangelou & Hild zeigen anhand mehrerer Falldarstellungen sehr anschaulich die Dichte der Beziehungen zwischen Beratungsfachkraft und Ratsuchenden und beschreiben aus ihrer Praxis die Möglichkeiten der Beziehungsgestaltung online. Die Intensität der Beratungsbeziehung ermöglicht die Bearbeitung von schwierigen, teils schambesetzten Themen wie emotionale Vernachlässigung, sexuelle Übergriffe eines Elternteils, selbstverletzendes Verhalten, suizidale Gedankenwelt. Dadurch, dass die Grenzen der asynchronen webbasierten Mailberatung transparent kommuniziert werden, eignet sich der geschützte Rahmen einer Onlineberatung nach Evangelou & Hild auch gut für die Begleitung akuter Krisen (S. 68).

In den beiden nächsten Beiträgen wird die grundsätzliche Skepsis gegenüber dem Medium Internet in seiner Kombination mit der Psychotherapie zum Ausdruck gebracht. Unter Rückgriff auf das in den 1960er Jahren bekanntgewordene »erste softwaregesteuerte Simulationsprogramm für Hilfesuchende mit psychischen Problemen« namens ELIZA formuliert Ulrich A. Müller seine Skepsis gegenüber einer »Vollautomatisierung der psychotherapeutischen Behandlung« (S. 71). Die derzeitige berufsrechtliche Einbindung von psychotherapeutischen Behandlungen in einen heilberuflichen Kontext schließt nach Müller eine Psychotherapie im Internet grundsätzlich aus, da durch die Netzverbindung nicht dem in der Berufsordnung vorgeschriebenen persönlichen Kontakt entsprochen wird. Insofern gilt es nach Müller letztlich zu unterscheiden zwischen einer den persönlichen Kontakt erfordernden Psychotherapie für behandlungsbedürftige Erkrankungen und einer psychosozialen Beratung in Lebensphasen mit vorübergehenden Befindlichkeitsstörungen (S. 80), die auch internetbasiert geschehen kann. Zur Begründung für diese Unterscheidung rekurriert Müller auf die Entstehungsgeschichte der heilberuflichen Tätigkeiten als Kritik der durch den Einsatz technischer Hilfsmittel entfremdeten ärztlichen Handlung und als ganzheitlichen Gegenentwurf zur nur Teilaspekte der Persönlichkeit in den Fokus nehmenden medizinischen Behandlung, die zu einem die Leib-Seele-Einheit berücksichtigenden Verständnis von seelischen Erkrankungen geführt hat (S. 78). Müller begründet seine Skepsis zu internetgestützten Therapieprogrammen zudem mit dem naheliegenden Verdacht, dass bestimmte »Störungsbilder« generell durch solche Programme »betreut« werden könnten und die Differenz zwischen psychosozialer Beratung und heilberuflicher Therapie verschwimmt. Diese gerade gelte es aufrechtzuerhalten, »um fachliche Grenzen zum Schutz der betroffenen Patienten ziehen zu können« (S. 80) und die erreichten Erfolge der Profilierung eines wissenschaftlich fundierten Berufsprofils nicht zu gefährden.

Die Grenzlinie zu ziehen zwischen einer Beratung, die auch internetbasiert stattfinden kann und einer Psychotherapie, für die die Kopräsenz von Patient und Therapeut konstitutiv ist, ist auch das Anliegen des Beitrags von Jürgen Hardt über Beziehungen im Internet mit der Überschrift »Psychotherapie unter der Herrschaft des Man II«. Hardt rahmt seinen Beitrag mit einer kulturphilosophischen Grundsatzkritik der Mediatisierung als alternativlos scheinende Überformung aller Lebensbereiche, die im Wesentlichen den Gesetzen der Ökonomie, der Effektivität und Effizienz folgt (S. 98). Entsprechend unterwirft sich eine internetbasierte Psychotherapie den Gesetzen des Marktes und wird ihre Funktion, »den Menschen zu seiner selbstbestimmten Mündigkeit zu führen« (S. 98) nicht gerecht werden können. Er unterscheidet deshalb »zwischen einer Behandlung des Selbst und einer Behandlung des Man« (S. 89). Letztere ordnet er als Subjekt der Alltagspsychologie und Alltagspsychotherapie zu, die in der Regel mit guten Ratschlägen auskomme (S. 94f.). Wenn als Maßstab für die Psychotherapie nur die Effektivität gilt anstelle von Wahrheit oder Emanzipation, können kognitiv-verhaltenstherapeutische Interventionen auch der ökonomischen Logik des Internet folgen und online stattfinden (S. 99), da sie der Behandlung des Man und nicht des Selbst dienen, und nach der obigen Differenzierung keine Psychotherapie im eigentlichen Sinn darstellen. Bei einer tiefenpsychologischen Therapie muss der »Therapeut … ›spüren‹ können, was es mit den Patienten auf sich hat. Und das ist nur möglich, wenn alle Sinne aufmerksam sind« (S. 106). Geht die Psychotherapie ganz ins Netz, verliert sie – so das Resümee von Hardt - die Aufgabe der Sinnstiftung und wird zu einer Technik im System, die eine bloße Reparatur des Man betreibt.

Im letzten Beitrag dieses Bandes beschäftigt sich Johann Rautschka-Rücker mit den rechtlichen Fragestellungen der Internetpsychotherapie bzw. der psychotherapeutischen Fernbehandlung. Rautschka-Rücker differenziert hierbei zwischen den berufsrechtlichen Vorgaben der Kammern (grundsätzliches Fernhandlungsverbot) und den Standards zur Vermeidung haftungsrechtlicher Risiken. Für Ärzte und Psychotherapeuten gilt zwar der Grundsatz der Therapiefreiheit, dieser ist aber an bestimmte haftungsrechtlich bedeutsame Sorgfaltspflichten zur Einhaltung fachlicher Standards gebunden (S. 127). In allen Stadien psychotherapeutischer Behandlung (Diagnose, Indikation, Aufklärung und Überwachung des therapeutischen Prozesses) müssen die fachlichen Standards eingehalten werden. Nach bisheriger Rechtsprechung so Rautschka-Rücker ist für eine fachlich fundierte Diagnose der unmittelbare persönliche Kontakt unverzichtbar (S. 129). Gleiches gilt seiner Ansicht nach letztlich auch für die weiteren Stadien des therapeutischen Prozesses. Insofern sind neuere Entwicklungen zur psychotherapeutischen Fernbehandlung juristisch nur teilweise erfasst. Weil fachliche Standards sich ändern können, empfiehlt Rautschka-Rücker das Berufsrecht insoweit zielgenauer zu gestalten und um einen Passus zu den fachlichen Empfehlungen zum psychotherapeutischen Behandlungsstandard zu ergänzen. Diese haben zwar keine unmittelbar bindende Wirkung, gelten aber in der Rechtsprechung als Wegweisung, von der nur unter besonderer Rechtfertigung abgewichen werden darf (S. 131).

Diskussion

In diesem Band sind die gegensätzlichen Postionen zum noch offenen Streit über die Internettherapie in Deutschland versammelt. Auf der einen Seite finden sich Vertreter einer evidenzbasierten Psychotherapie, die mit in Studien erprobten internetbasierten kognitiv-verhaltenstherapeutisch orientierten Programmen spezifische psychische Störungen behandeln und einen Beitrag zum Problem der psychiatrischen Unterversorgung leisten wollen, im Band vertreten durch Thomas Berger, Björn Meyer und Steffen Moritz. Auf der anderen Seite kommen Vertreter einer eher tiefenpsychologisch orientierten Psychotherapie zu Wort, die einer internetbasierte Psychotherapie im Grundsatz eher ablehnend gegenüberstehen, da aufgrund der fehlenden körperlichen Anwesenheit der Patienten eine internetbasierte Psychotherapie schwerlich vorstellbar ist, im Band durch Funktionsträger der Hessischen Psychotherapeutenkammer vertreten: Ulrich A. Müller, Jürgen Hardt und Johann Rautschka-Rücker. Dass dieser Streit um die internetbasierte Psychotherapie in den einzelnen Beiträgen so vehement geführt wird, hängt sowohl mit der Versorgungslage bei psychischen Störungen zusammen – es fehlen in Deutschland derzeit etwa 4000 Psychotherapeuten – als auch mit den berufsständischen Interessen der niedergelassenen PsychotherapeutInnen.

Das in Deutschland geltende Fernbehandlungsverbot kennt nur in begründeten Ausnahmefällen und unter Beachtung besonderer Sorgfaltspflichten internetbasierte Therapieformen, bislang beinahe ausschließlich im Rahmen von Forschungsstudien. Seit kurzem ermöglichen einige Krankenkassen ihren Versicherten die Teilnahme an störungsspezifischen Internettherapien. Dass damit nicht notwendigerweise »das Ende der Aufklärung« (Hardt in diesem Band S. 118) eingeläutet werden muss, zeigt ein Blick in die mittlerweile 20jährige Geschichte der Onlineberatung: Auch dort ist die befürchtete Ersetzung der Präsenzberatung durch die Onlineberatung nicht eingetreten, im Gegenteil: Onlineberatung erreicht Zielgruppen, die die Präsenzberatung nicht aufsuchen und hat sich weitgehend zu einer sinnvollen Ergänzung der klassischen Beratungsformen entwickelt.

Fazit

Der Band ist für LeserInnen empfehlenswert, die sich mit der internetbasierten Psychotherapie näher beschäftigen wollen. Er bietet eine Fülle von Argumenten und Gegenargumenten für und gegen eine psychotherapeutische Fernbehandlung. Zentraler Streitpunkt ist dabei, ob für eine psychotherapeutische Behandlung in den Phasen Diagnose, Indikation, Aufklärung und Überprüfung des Therapiefortschritts die Notwendigkeit der körperlichen Anwesenheit der PatientInnen bzw. der TherapeutInnen besteht. Daran entscheidet sich letztlich die die Zulassung internetgestützter Therapien. Wer also die derzeitige Auseinandersetzung innerhalb der Therapeutenschaft verstehen will, dem ist dieses Buch bestens zur Lektüre empfohlen.

www.socialnet.de

zurück zum Titel