Rezension zu Homosexualität, Heterosexualität, Perversion
Zeitschrift für Sexualforschung Heft 3 18.Jg. September 2005
Rezension von Stephanie Castendyk
Ein Klassiker der psychoanalytischen Literatur ist neu aufgelegt
worden: Fritz Morgenthalers »Homosexualität, Heterosexualität,
Perversion«, eine Sammlung von Aufsätzen, die Morgenthaler zwischen
1961 und 1983 zum Thema verfasst hat. Vorwort und Text wurden
übernommen: Paul Parin, sein Mitstreiter am Psychoanalytischen
Seminar Zürich und Begleiter auf ethnopsychoanalytischen
Forschungsreisen, hat jedoch ein biografisches Nachwort
hinzugefügt, das in angenehm knapper Klarheit Herkunft und
Wirkungskreis Fritz Morgenthalers umreißt. Eine solche Einordnung
ist umso wichtiger, als die hier neu aufgelegten Texte vor dem
Hintergrund ihrer Entstehungszeit verstanden werden sollten.
In den westeuropäischen Gesellschaften findet zwischen 1960 und
1980 die so genannte sexuelle Revolution statt. Es ist die Zeit der
Studentenbewegung, der Hippie-Kultur, des Feminismus und
schließlich der Schwulenbewegung. Nur bei den Psychoanalytikern
sieht es anders aus. Während Freud einen Aufruf unterschrieb, der
sowohl strafrechtliche Verfolgung als auch Pathologisierung von
Homosexuellen beenden sollte, wurde das Klima unter seinen
Nachfolgern deutlich konservativer. Abweichungen von der
heterosexuellen Norm wurden fast ausnahmslos als schwere psychische
Störungen klassifiziert. Theorien zur Genese der Homosexualität
tendierten dazu, nicht nur eine neurotisch-ödipale, sondern auch
eine präödipal-narzisstische Genese der Homosexualität anzunehmen.
Die politischen Folgen dieser Theorienbildung innerhalb der
International Psychoanalytical Association (IPA) sind drastisch:
Während Homosexualität in der Gesellschaft zunehmend als eine der
Heterosexualität gleichwertige sexuelle Orientierung anerkannt
wird, grenzt man Homosexuelle in den psychoanalytischen
Ausbildungsinstituten weltweit aus. Erst Ende der 1990er Jahre
werden einige wenige Homosexuelle in Deutschland als Kandidaten
zugelassen.
Im Spannungsfeld dieser zwei gegenläufigen historischen Bewegungen
wird der Psychoanalytiker Morgenthaler zum Revolutionär seiner
Zunft: Er entwirft die erste psychoanalytische Theorie zu einer
Genese »gesunder« Homosexualität. Es ist ein groß angelegter
Entwurf, denn Morgenthaler möchte den Blick auf die menschliche
Sexualität gewissermaßen umdrehen: Nicht die Sublimierung der
Triebe innerhalb einer gut angepassten Ich-Struktur ist für ihn das
Ziel einer Analyse, sondern die Befreiung der Triebe von den
Beschränkungen und Zwängen gesellschaftlicher Anpassung.
Diese vom Enthusiasmus der Aufklärung getragene Haltung
Morgenthalers hat maßgeblich dazu beigetragen, die fast in
Vergessenheit geratene Toleranz Sigmund Freuds zumindest im
deutschsprachigen Raum wieder ins Gedächtnis zu rufen.
Psychoanalytiker, denen eine »Umerziehung« Homosexueller auf der
Couch fragwürdig erschien, konnten nun auf eine theoretische
Grundlage verweisen, und auch die Sexualwissenschaft bekam ein
psychoanalytisches Rüstzeug, um die Entpathologisierung der
Homosexualität voranzutreiben. Rückblickend muss man allerdings
feststellen, dass der Wunsch, die Homosexualität vom Verdikt einer
schweren Pathologie zu befreien, gelegentlich zu allzu großer
Identifizierung geführt hat. Anders gesagt: Die Rhetorik der
Befreiung läuft Gefahr, das zu idealisieren, was als homosexuelles
Selbstverständnis bezeichnet werden kann, nämlich erotische
Intensität, Autonomie, häufiger Partnerwechsel und die Freiheit von
den Zwängen gesellschaftlich fixierter Geschlechtsrollen. Wie sieht
eine solche Idealisierung durch die Theorie im Einzelnen aus?
Grundlage des Morgenthalerschen Denkens ist die Dichotomie des
Sexuellen und der Sexualität. Als »das Sexuelle« bezeichnet der
Autor alle emotionalen Bewegungen im Es, d.h. »das Sexuelle« ist
ziellos, zeitlos, ungerichtet und unbewusst; es ist die Quelle von
Liebe und Kreativität. Im Gegensatz dazu meint er mit dem Begriff
»Sexualität« all jene Fixierungen des Sexuellen, die im Rahmen der
Ich-Entwicklung entstehen, um eine stabile Identität, Autonomie und
Anpassung zu gewährleisten. Jedes Individuum entwickelt so seine
eigene Sexualität, seine Präferenzen, Verdrängungen und
Fixierungen, seien sie heterosexuell, homosexuell oder pervers, im
Dienste einer Ich-Struktur, die sich selbst zu stabilisieren
trachtet. Als wertfrei beschriebenes Begriffspaar ist diese
Dichotomie sehr produktiv für die psychoanalytische Theoriebildung.
Morgenthaler fügt jedoch eine politische Dimension ein und spricht
von der »Diktatur der Sexualität« aus der es sich zugunsten des
Lebendig-Sexuellen zu befreien gilt.
Was also geschieht in der homosexuellen Entwicklung? Morgenthaler
postuliert drei Phasen auf dem Weg zur Homosexualität, die
frühkindliche, die ödipale und die adoleszente Phase. In der
frühen, präödipalen Zeit komme es bei später manifest Homosexuellen
zu einem Übergewicht der Triebentwicklung vor der Ich-Bildung,
wobei die autoerotische Aktivität besonders stark positiv besetzt
würde, um so zur Abgrenzung und Autonomie eines noch labilen Selbst
dienen zu können. Der Homosexuelle habe daher schon früh eine auf
dem Erotischen basierende Identität, ein Ich, dessen Autonomie sich
in der Autoerotik bestätigt und stärkt Morgenthaler hat dieses
Konzept in intensiver Arbeit mit schwulen Patienten entwickelt, und
er hat nicht den Fehler seiner Kollegen gemacht, die sexuelle
Orientierung selbst zur Pathologie zu erklären. Umgekehrt besteht
jedoch die Gefahr, sich im Zuge der sexuellen Befreiung zu sehr mit
dem Selbstbild der Analysanden zu identifizieren. Jedenfalls sollte
es stutzig machen, wenn die Lektüre einer psychoanalytischen
Theorie als Quelle narzisstischer Bestätigung verwendet werden
kann.
Diese unterschwellige Tendenz zur Idealisierung findet sich ebenso
in der Theoriebildung zur ödipalen Phase. Morgenthaler geht davon
aus, dass sich das autoerotisch aktive Kind auf der Suche nach
einem Begehrensobjekt erst einmal wie jedes andere Kind dem
gegengeschlechtlichen Elternteil zuwendet. Hier begegne dem Kind
zuerst die desexualisierte Geschlechtsrolle: »Der Knabe liebt die
Mutter, das Mädchen den Vater ganz einfach so, wie sie sich selbst
autoerotisch lieben lernten, und beide erleben ihre Partner als
Partner, die ihnen gleichen« (S.90). Erst auf der Höhe der so
ausgelösten Rivalitätsängste, d.h. der Kastrationsangst, erkennen
die Kinder die primären Geschlechtsmerkmale. Das autoerotisch
besonders geprägte Kind soll nach dieser Entdeckung dem
gegengeschlechtlichen Elternteil die Besetzung entziehen. Die Lage
entspannt sich, weil das Kind nun vor allem seine Neugier auf die
Diskrepanz zwischen Geschlechtsrolle und Geschlechtsmerkmal
richtet. »Dabei geht es nicht darum, dass das gegengeschlechtliche
Liebesobjekt durch das homosexuelle ersetzt wird. Der Schwerpunkt
liegt vielmehr auf der Entdeckung, dass die Elternfiguren zwei sich
widersprechende Rollen verkörpern. Sie haben ein doppeltes Gesicht.
Solange nur das eine Gesicht, das der desexualisierten
Geschlechtsrolle, erkannt wird, dramatisiert sich der ödipale
Konflikt bis zur Ausbildung heftiger Kastrationsängste. Wenn dann
aber durch die Entdeckung der Geschlechtsmerkmale das andere
Gesicht der Eltern wahrgenommen wird, entdramatisiert sich der
ödipale Konflikt, weil der lnzestwunsch seine Inhalte verliert.
Damit geht der Ödipuskomplex beim Homosexuellen unter. An seine
Stelle tritt ein spielerischer Umgang mit potentiellen
Liebesobjekten, deren Januskopf etwas Befreiendes und
Relativierendes hat« (S.91). Das später homosexuelle Begehren
orientiere sich dann nicht so sehr am gleichen Geschlechtsmerkmal,
es sei vielmehr auf das Changieren von Geschlechtsrolle und
Geschlechtsmerkmal gerichtet, wobei Morgenthaler annimmt, dass der
spielerische Wechsel der Geschlechtsrollen bei homosexuellen
Partnern nicht nur die eigentliche Anziehung ausmacht, sondern auch
immer gleich ausgeprägt ist: allen steht alles gleichermaßen zu
Gebote. Die Idealisierung ist auch hier nicht zu übersehen. Das
Begehren des unneurotisch Homosexuellen ist nicht auf ein bloßes
Geschlechtsmerkmal gerichtet, sein Umgang mit rigiden
Geschlechtsstereotypen ist freier und quasi spielerisch omnipotent.
Und diese Freiheit ist nicht nur die Begleiterscheinung eines
unkonventionellen Lebenslaufes, nein, sie ist das Konstituens der
Homosexualität schlechthin.
Eine solche Idealisierung mag argwöhnisch stimmen, aber ist sie
deshalb schon falsch? Versuchen wir probeweise, das, was wir von
der ödipalen Entwicklung wissen, mit der Theorie von Morgenthaler
abzugleichen. In der Beobachtung lässt sich feststellen, dass alle
Kinder eine Phase durchlaufen, in der sie die Eltern wie sich
selbst als geschlechtlich omnipotent wahrnehmen und Wünsche nach
gemeinsamer autoerotischer Aktivität hegen. Diese Phase wird als
phallisch bezeichnet und vor der ödipalen Phase angesiedelt. Die
Konfrontation mit der zweigeschlechtlichen Conditio humana beendet
den Zustand narzisstischer Vollkommenheit, denn nun muss das Kind,
langsam und gegen viele Widerstände, akzeptieren, dass kein Mensch
beide Geschlechter zugleich sein kann, weder es selbst noch seine
Eltern. In dieser Zeit spielt jedes Kind mit den Geschlechtsrollen.
Sigmund Freud hat dies als Wechsel zwischen dem negativen und dem
positiven Ödipus beschrieben, wobei der später heterosexuelle Knabe
die negative ödipale Einstellung aufgibt, um sich – seine männliche
Identität wahrend – mit dem Vater zu identifizieren.
Morgenthaler nimmt nun an, dass den homosexuellen Jungen das
Auseinanderklaffen von Geschlechtsrolle und Geschlechtsmerkmal
nicht so sehr irritiert als vielmehr anzieht. Er macht die
Freiheit, in der Geschlechtsrolle zu changieren, selbst zum Objekt
des Begehrens. Diese Freiheit der Wahl muss jedoch bei näherer
Betrachtung bezweifelt werden. Denn erstens greifen
gesellschaftliche – und mithin auch parentale – Erwartungshaltungen
nicht erst im Pubertätsalter; bereits ein Junge von fünf bis sieben
Jahren verstößt mit einer weiblichen Positionierung gegen die
Erwartungen seines Umfeldes und wird nicht selten für seine Haltung
bestraft. Es scheint also nicht die größere innere Freiheit,
sondern vielmehr eine psychische Notwendigkeit zu sein, die ihn
dazu bringt, sich einer vollkommenen Identifizierung mit der
männlichen Geschlechtsrolle zu entziehen. Zweitens muss man
feststellen, dass die völlige Freiheit in der Übernahme der
weiblichen bzw. der männlichen Rolle eher eine Idealisierung ist
als ein empirisch belegbares Faktum. Denn obwohl ein Spielen mit
Geschlechtsrollen unter Homosexuellen sicher verbreiteter ist als
unter Heterosexuellen, zeigen doch die meisten Schwulen eine
deutliche Präferenz in die eine oder andere Richtung.
Morgenthaler jedoch hält eine solche Präferenz bei Homosexuellen
für neurotisch. Allein der Schwule, der seine begehrende
Einstellung beliebig wechseln kann, ja dessen Begehren gerade auf
dieses Wechselspiel ausgerichtet ist, scheint ihm der wahre, d.h.
»unneurotische« Homosexuelle. Hier wird ein Bild vom guten Schwulen
entworfen, das im Wertesystem sexueller Befreiung seinerseits
normbildende Wirkung hat. Und es ist ein Bild, das an jene
Omnipotenzphantasie der phallischen Phase erinnert, die jedes Kind
hinter sich lassen muss, um in die Objektliebe auf ödipalem
Strukturniveau eintreten zu können.
So weit zur Eingangsphase des ödipalen Konflikts. Wie geht es
danach weiter? Wenn der Junge sich im erotischen Dialog
positioniert hat, tritt er in das ödipale Dreieck ein, d. h. er
muss sich damit auseinander setzen, dass er einen Rivalen hat, der
nicht nur größer und stärker ist, sondern der auch das Gesetz auf
seiner Seite hat. Im Falle des heterosexuellen Jungen ist es der
Vater, der all diese Trümpfe in der Hand hält. Die so ausgelösten
Kastrationsängste führen dazu, dass der Knabe jene Gesetze der
Realität anerkennt, die auch sein weiteres Leben bestimmen werden.
Es handelt sich dabei mitnichten nur um das Inzestverbot, sondern
vielmehr auch um das Leistungs- und Tauschprinzip. Man kann nur
Gleichwertiges tauschen und man bekommt nur, was man sich verdient.
Denn im Dreieck des Begehrens ist ein kleiner Junge kein
Liebespartner für eine erwachsene Frau, Der Knabe muss erst
erwachsen werden, um der Mutter etwas bieten und dem Vater etwas
entgegensetzen zu können. Und solange er den Schutz vom Vater noch
braucht, darf er ihm nichts wegnehmen. All das sind narzisstische
Kränkungen. Der Sohn muss sein grandioses Selbstbild aufgeben, um
einen realitätsgerechten Umgang mit der Welt zu gewinnen. Und er
muss die Mutter als Objekt aufgeben, um die Harmonie im Dreieck
wieder herzustellen, seine Ängste zu verlieren und später ein
eigenes, angemessenes Objekt zu wählen. Eine solche Bewältigung des
ödipalen Konflikts führt dazu, dass der Knabe Aufschubs- und
Frustrationstoleranz erwirbt und lernt, sein Selbstbild über die
Zugehörigkeit zu einer Gruppe und über eigene Leistungen zu
stabilisieren.
Diese wichtige Phase wird bei Morgenthaler stark verkürzt, ja sie
findet eigentlich gar nicht statt. Denn der homosexuelle Knabe
unterläuft den Konflikt einfach. Allein interessiert am Changieren
der Geschlechter fällt das allzu rigid geschlechtskonforme Objekt
weg. Das Bild von der eigenen Omnipotenz kann beibehalten werden,
es kommt weder zur Aufschubs- noch zur Frustrationstoleranz; eine
Anerkennung realer Macht- und Größenverhältnisse erübrigt sich
ebenso wie eine rivalisierende Konfrontation. Der ödipale Konflikt
wäre also bei Homosexuellen nicht strukturbildend und er müsste
auch nicht bewältigt werden. Stattdessen wird er durch ein Spiel
ersetzt und mithin überflüssig. Allein dieser Umstand wird jeden
Psychoanalytiker stutzig machen, denn es ist die Verleugnung des
Konflikts, die ihm auf der Couch tagtäglich begegnet. Hinzu kommt,
dass wir ein Beibehalten omnipotenter Phantasien als klassisches
Charakteristikum einer narzisstischen Störung kennen. Oder anders
formuliert: Wenn Morgenthaler Recht hätte, wäre dann nicht jeder
Homosexuelle narzisstisch gestört?
Und auch die Annahme, dass die eigentliche Identität des
Homosexuellen, ebenso wie das eigentliche Ziel seines Begehrens, im
Changieren der geschlechtlichen Positionen liegt, ist in ihrer
Konsequenz wenig überzeugend. Denn es ist eine Annahme, die die
gleichgeschlechtliche Objektwahl nicht erklärt. Warum sollte sich
ein omnipotentgeschlechtlicher Mann nicht ebenso häufig in eine
omnipotentgeschlechtliche Frau – will heißen, in eine Lesbe –
verlieben? Morgenthaler verweist bei dieser Frage einmal mehr auf
die besonders aktive Autoerotik: ein Zirkelschluss, der in seiner
Konsequenz den ödipalen Konflikt nur ein zweites Mal zu einer für
Homosexuelle überflüssigen Veranstaltung erklärt.
An dieser Stelle ist es wichtig, noch einmal zu schauen, welchen
Grund Morgenthaler überhaupt dafür anführt, dass in jedem Menschen
die Diktatur der Sexualität das Potenzial des Sexuellen beherrscht.
Der Autor verweist mit Nachdruck auf die lange und intensive
Abhängigkeit, in der jedes Menschenkind aufwächst. Sexuelle
Objektbesetzungen würden diese ursprüngliche Abhängigkeit von der
Pflegeperson reaktivieren, sodass Abhängigkeit als eine zentrale
Gefahr tiefe Ängste auslöse. Morgenthaler hat diesen Umstand als
menschliche Konstante erkannt. Er schreibt: »Es ist das
Triebschicksal aller Menschen, eine Abhängigkeit vom Liebesobjekt
zu entwickeln, wenn die sexuelle Objektbesetzung aufrechterhalten
bleibt« (S.155). Im Aufsatz »Sexualität und Psychoanalyse« erzählt
er aus seinen Erfahrungen als Ethnopsychoanalytiker, wie unsere und
andere Gesellschaften diese Gefahr der Abhängigkeit durch
Strukturen von Identität zu bannen suchen.
Das Gegengewicht dieser Ängste bilde die Autonomie, d. h. ein
starkes Ich, das sich der Abhängigkeit entgegenstellen kann. Die
Sexualität als vom Ich geschaffene Struktur aus Identifikationen
und Fixierungen, ob heterosexuell, homosexuell oder pervers, diene
also der Stärkung der Autonomie gegen eine drohende Abhängigkeit.
Morgenthaler entwirft hier eine Dialektik der menschlichen
Beziehung, die überzeugt. Aber er unterschlägt jene zweite
Besonderheit der menschlichen Existenz, nämlich das Fehlen
determinierender Instinkte zugunsten eines komplizierten
psychischen Apparates. Einiges spricht dafür, dass diese
Besonderheit zu einer zweiten, spezifisch menschlichen Gefahr
führt, nämlich der des immer drohenden Zusammenbruchs eben jenes
psychischen Apparates, d. h. der Psychose. Stabile Ich-Strukturen
und mithin auch eine das Sexuelle strukturierende Sexualität dienen
eben nicht nur dazu, in der Autonomie ein Gegengewicht zur
Abhängigkeit zu installieren; sie sind auch notwendig, um einen
Zerfallsprozess zu verhindern, der potenziell in die Psychose
mündet. In diesem Sinne kann die Sexualität mit ihren
Beschränkungen und Identifikationen nicht mehr nur als notwendiges
Übel gesehen werden; sie ist vielmehr eine rettende Struktur, deren
psychischen Notwendigkeiten mehr Aufmerksamkeit gebührt, als die
Theorie Morgenthalers nahe legt.
Der ödipale Konflikt nimmt bei dieser rettenden Strukturbildung
eine zentrale Stellung ein, weil in diesem bestimmte
Entwicklungsaufgaben bewältigt werden. Das Kind muss aus der
Phantasie narzisstischer Omnipotenz heraustreten und seine
Angewiesenheit auf den anderen anerkennen. In der psychosexuellen
Entwicklung heißt das, die Phantasie von geschlechtlicher
Vollkommenheit aufzugeben, um in den Reigen des Begehrens
einzutreten. Weil ich im erotischen Dialog nur eine Seite vertrete,
kann ich die andere begehren. Es ist also psychisch notwendig, sich
in der geschlechtlichen Einstellung zumindest mit einer Präferenz
zu positionieren, um einen Dialog jenseits spiegelnder
Kommunikation führen zu können.
Die zweite strukturbildende Entwicklungsaufgabe in der ödipalen
Phase ist die Wahl eines Objektes. Auch hier zeigt die empirische
Realität, dass zumindest in unserer offenen Gesellschaft eine
Objektpräferenz genügt, um sowohl nach außen als auch nach innen
ein ausreichendes Maß an Ich-Stabilität zu gewährleisten. Das
Fehlen einer solchen Präferenz, d.h. die beliebige, bisexuelle
Objektwahl hingegen wird sowohl von Homosexuellen als auch von
Heterosexuellen beargwöhnt; innerpsychisch trifft man sie häufig
bei Borderline-Patienten.
Die dritte psychische Leistung in der ödipalen Phase betrifft die
Integration des Dritten in die Beziehungsstruktur. Das Kind muss
sich mit den Bedrohungen und Ängsten von Rivalität auseinander
setzen, die Realität von Tausch und Leistung anerkennen, sich auf
dem Wege der Identifikation nicht nur im ödipalen Dreieck, sondern
auch in den Gesetzen der Gemeinschaft verorten und so den Konflikt
bewältigen. Die Ausbildung von Ich-Leistungen wie
Frustrationstoleranz und Befriedigungsaufschub gehören ebenso in
diese Phase wie die Aufgabe des ödipalen Objekts zugunsten der
späteren Freiheit, ein neues Objekt zu wählen.
Alle diese strukturellen psychischen Notwendigkeiten finden sich
auch in Morgenthalers Einlassungen. Aber sie zielen zugunsten einer
Befreiung von der Diktatur der Sexualität immer haarscharf an
diesen produktiven Notwendigkeiten des ödipalen Konflikts vorbei.
Dennoch ist das Buch von Fritz Morgenthaler nicht hoch genug zu
schätzen. Denn es enthält einen ebenso kühnen wie differenzierten
und moralisch zutiefst integren Entwurf, dessen historische Wirkung
kein Verfechter von Toleranz und individueller Freiheit missen
möchte.