Rezension zu Freud bei der Arbeit
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Rezension von Barbara Neudecker
Thema
In mehreren Beiträgen behandelt das Buch Aspekte der Frühgeschichte
der Psychoanalyse. Zum einen wird gezeigt, in welcher Weise Sigmund
Freud bei der Theoriebildung durch die Auseinandersetzung mit
Ansätzen seiner Schüler beeinflusst wurde, zum anderen gibt die
Auswertung von Freuds Patientenkalender aus den Jahren 1910–1920
einen Einblick in seine Arbeit mit Patienten.
Autorin
Ulrike May ist Psychoanalytikerin in Berlin und forscht und
publiziert seit vielen Jahren zur Frühgeschichte der
Psychoanalyse.
Entstehungshintergrund
Der Band versammelt neun Studien zur Frühgeschichte der
Psychoanalyse, die in den letzten 25 Jahren als Einzelarbeiten in
Zeitschriften wie »Psyche« oder »Luzifer-Amor« oder in
verschiedenen Sammelwerken erschienen waren.
Aufbau
Das Buch umfasst zwei Teile.
Der erste Teil des Buchs umfasst Beiträge zur frühen
Theoriegeschichte der Psychoanalyse. Sie beziehen sich auf die
Entwicklung psychoanalytischer Theorien in den Arbeiten von Sigmund
Freud und frühen Schülern Freuds wie Isidor Sadger oder Karl
Abraham.
Der zweite Teil des Bandes wendet sich Freuds Patienten zu und
versammelt mehrere Arbeiten, die aus dem Studium und der Auswertung
von Freuds Patientenkalender von 1910 bis 1920 entstanden.
Zu Teil 1
Im ersten Beitrag zeichnet die Autorin nach, auf welche Weise Freud
dazu kam, eine narzisstische Stufe in der psychosexuellen
Entwicklung einzuführen und auf welche Weise Beobachtungen und
Überlegungen seines Anhängers Isidor Sadger in Freuds Vorstellungen
über den Narzissmus einflossen.
Die nächsten Beiträge befassen sich damit, wie sich Arbeiten von
Karl Abraham auf Freuds Theoriebildung auswirkten. Dabei folgt die
Autorin dem Gedanken, dass aktuelle klinische und theoretische
Vorstellungen in der Psychoanalyse stärker von Abraham geprägt sind
als uns bewusst ist. Zunächst geht es um die Ätiologie der
Depression. Anders als Freud, der die Rolle des Vaters für die
kindliche Entwicklung betonte, rückten in Abrahams Verständnis der
Depression aggressive Komponenten in der frühen Beziehung zur
Mutter in den Vordergrund. May zeichnet nach, wie Freud und Abraham
mit diesen differierenden Ansichten umgingen. Ebenso wird darauf
aufmerksam gemacht, dass Abraham als erster das Bild der
präödipalen »bösen Mutter« in die Psychoanalyse einführte. Im
nächsten Beitrag wird anhand von Abrahams erster psychoanalytischer
Publikation aus dem Jahr 1907 aufgezeigt, wie schwierig es für
Freuds Anhänger war, seine Theorien in all ihrer Komplexität
nachzuvollziehen. In seinem Aufsatz entwickelte Abraham den
Gedanken der »Traumatophilie«, also der Annahme, dass Kinder mit
abnormer Konstitution – die später zur Entstehung von Neurosen oder
Psychosen führt – sexuelle Traumen unbewusst wollen und
provozieren. Freuds Kommentar zu dieser Arbeit veranschaulicht, wie
der Begründer der Psychoanalyse mit abweichenden Ansichten
besonders geschätzter Schüler umging. Auch in der folgenden Studie
wird der Grundannahme nachgegangen, dass Abrahams
»Grundvorstellungen vom Psychischen anders beschaffen waren« (May
2015, 154) als jene Freuds, und zwar am Beispiel der Entwicklung
des Konzepts des oralen Sadismus durch Abraham. Die Autorin zeigt
auf, dass beide ein unterschiedliches Verständnis in Bezug auf
objektfeindliche Regungen in der oralen Phase hatten und dass Freud
Abrahams Konzeptionen der frühen Objektbezogenheit des Säuglings
und der frühen sadistischen Aggression nicht teilen konnte.
Auch im nächsten Kapitel wird die These, dass die heute gängige
psychoanalytische Vorstellung gegen das Objekt gerichteter
sadistischer Impulse des Säuglings auf Abraham zurückgeht, weiter
entfaltet. Neben einem Abriss der Bedeutung von Oralität in der
frühen Psychoanalyse bis in die 1920er Jahre wird auf den
holländischen Psychoanalytiker August Stärcke näher eingegangen,
der den Säugling mit einem »Raubtier« an der Mutterbrust
vergleicht. Das folgende Kapitel beschreibt die historische
Entwicklung der Analerotik in den Anfängen der Psychoanalyse und
arbeitet dabei Unterschiede zwischen Freud und einigen seiner
Schüler wie Abraham, Stärcke, Ernest Jones oder Jan van Ophuijsen
heraus.
Der letzte Beitrag des theoriegeschichtlichen ersten Teils des
Bandes stellt eine Annäherung an das Konzept des Todestriebs dar,
den Freud 1920 in »Jenseits des Lustprinzips« eingeführt hatte.
Zu Teil 2
Zunächst wird die Analyse des ungarischen Barons Viktor von
Dirsztay dargestellt, dessen Behandlung mit insgesamt rund 1400
Stunden zu den längsten Analysen Freuds zählt. May untersucht nicht
nur die äußeren Daten dieser psychoanalytischen Behandlung, sondern
führt einen Roman von Dirsztays, in dem ein Doppelgänger eine
zentrale Rolle spielt, mit einer Veröffentlichung Freuds zusammen,
in der ebenfalls dieses Motiv behandelt wird und in der die Autorin
Aspekte der Behandlung des Patienten wiederfindet.
Der umfangreichste Beitrag des Buches ist die systematische
Darstellung von 36 Analysen Sigmund Freuds über einen Zeitraum von
zehn Jahren, basierend auf der Auswertung seines
Patientenkalenders. Die Analysen von 17 Psychoanalytikerinnen und
Psychoanalytikern, die sich zu Ausbildungszwecken oder aufgrund von
Leidenszuständen bei Freud in Behandlung begaben und von 19
Patientinnen und Patienten, die nicht der psychoanalytischen
»Community« angehörten, werden getrennt ausgewertet. Es wird
deutlich, dass sowohl die Dauer als auch die Frequenz der
Behandlungen bei Freud stark variierten. Dauerten manche Analysen
nur wenige Monate, so gab es auch wenige Fälle, die über einen
Zeitraum von zwei Jahren und länger behandelt wurden. Oft kamen
Analysandinnen und Analysanden in mehreren Tranchen mit längeren
Unterbrechungen dazwischen zur Behandlung. Auch in der Frequenz der
Behandlungen gab es Unterschiede: Am häufigsten lassen sich
sechsstündige Kuren mit je einer Sitzung von Montag bis Samstag
finden, Freud arbeitete aber auch niederfrequenter mit drei bis
fünf Stunden pro Woche, so wie sich auch Fälle mit mehr als sechs
Wochenstunden finden lassen. Zudem lässt sich in vielen Fällen
nachweisen, dass Freud die Frequenz während der Behandlung
änderte.
Zusammenfassend kommt May zu dem Schluss, dass Freud sich »in Bezug
auf die Dauer und die Frequenz von Analysen undogmatisch und
liberal« (May 2015, 341) verhielt.
Diskussion
»Freud bei der Arbeit« zu erleben, verspricht uns der Titel des
Buches – und tatsächlich wird diese Ankündigung mehrfach eingelöst.
Es liegt auf der Hand, dass wir im zweiten, praxisnahen Teil des
Buches einen sehr konkreten Einblick in die Arbeitsweise des
Begründers der Psychoanalyse erhalten, symbolisiert durch die
handschriftlichen Aufzeichnungen im Patientenkalender. Wie intim
dieser Einblick ist, wird von Ulrike May dadurch betont, dass sie
sich zu Beginn kritisch mit der Legitimation der Veröffentlichung
von Patientendaten Freuds auseinandersetzt. Doch auch der erste,
theoriegeschichtliche Teil des Buches zeigt uns »Freud bei der
Arbeit«, indem er Freuds Denken, aber auch den fachlichen Diskurs
mit seinen Kollegen bei der Entwicklung seiner Theorien
nachzeichnet. Damit bezeichnet der Titel des Buchs den roten Faden,
der die einzelnen Beiträge miteinander verbindet.
Ulrike May bearbeitet die Themen der einzelnen Beiträge sorgfältig
und ausführlich und schafft es, auch komplexe Themen so zu
vermitteln, dass der Überblick nicht verloren geht. Das ganze Buch
hindurch wird das Bemühen der Autorin spürbar, eine Systematik in
Freuds Gedankengängen zu einzelnen Theoriebereichen, aber auch in
Bezug auf die psychoanalytische Theoriebildung im allgemeinen
nachzuzeichnen. May gibt eine Übersicht der »Fakten«, zeichnet
Prozesse fast akribisch nach und macht die theoriegeschichtliche
Darstellung für den Leser damit gut nachvollziehbar. Gleichzeitig
wird immer deutlich gemacht, wo die Darstellung persönlich wird:
»Es handelt sich dabei freilich um Ergebnisse meiner Betrachtung,
die cum grano salis zu nehmen sind.« (May 2015, 154) Dieser
persönliche Ton macht die Lektüre noch leichter »verdaulich«.
Deutlich wird auch der Versuch, durch die Beschäftigung mit der
Frühgeschichte der Psychoanalyse Brücken zur Gegenwart zu schlagen
und an aktuelle Tendenzen in der Psychoanalyse anzuknüpfen. Bei der
Fülle der behandelten Themen schadet es auch nicht, dass es in den
einzelnen Beiträgen mitunter zu kleinen Redundanzen kommt – sie
helfen in der oft sehr komplexen Darstellung, zentrale Aussagen
besser zu erfassen.
Fazit
Wer mit der psychoanalytischen Theorie vertraut ist und sich für
die Frühgeschichte der Psychoanalyse interessiert, dem bietet
dieses Buch einen umfassenden Ein- und Überblick. Besonders für
Ausbildungskandidatinnen und -kandidaten, die vor der
Herausforderung stehen, sich im schier unüberschaubaren Gebiet der
psychoanalytischen Theoriebildung zu orientieren, wird dieses Buch
sehr lehr- und hilfreich sein. Wer sich ohne psychoanalytische
Vorkenntnisse dafür interessiert, wie Freud theoretisch und
praktisch arbeitete, wird hingegen mit anderen, weniger
anspruchsvollen Veröffentlichungen besser bedient sein.
Summary
The book focusses on different aspects of the history of
Psychoanalysis in its beginnings. It shows how Sigmund Freud came
to develop his theories on depression, narcissism, orality and
anality or the death drive and how he was influenced by theories of
his followers. It not only gives insight on how Freud worked
theoretically but also clinically as it presents an evaluation of
Freud´s calender in which he kept record of his patients´ sessions
from 1910 – 1920, thus giving us detailled information about the
duration and frequency of his analyses.
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