Rezension zu Das Unbewusste in Organisationen

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Rezension von Ronny-Markus Jahn

Thema

Der Sammelband enthält auf 562 Seiten 21 ausgewählte Beiträge der Zeitschrift »Freie Assoziation« aus den Jahren 1998 bis 2002. Übergeordnetes Thema der einzelnen Aufsätze ist die Auseinandersetzung mit dem Unbewussten in Organisationen und dessen Beforschung. Dieser Fokus ist so interessant wie ungewöhnlich, wird doch das Unbewusste vor allem mit klinischen Aspekten der Therapeut-Patient-Beziehung in Verbindung gebracht. An den Denkraum des Tavistock-Institutes und der ISPSO (International Society for the Psychoanalytic Study of Organizations) anknüpfend, blicken die 15 Autoren »unter die Oberfläche« und setzen sich in unterschiedlicher Art und Weise mit komplexen verborgenen Dynamiken menschlichen Verhaltens in Organisationen auseinander. Ziel der Beiträge ist es, der »Psychotherapeutisierung der Psychoanalyse« (Hrsg. S. 9) entgegenzuwirken sowie den Diskurs um das Unbewusste in Organisationen, Kultur und Gesellschaft, Managern, Beratern und Forschern im deutschsprachigen Raum zugänglich zu machen.

Aufbau

Die Texte sind auf vier Schwerpunkte verteilt:
Psychoanalyse und Organisation;
Das Denken in Organisationen;
Sozianalyse von Organisationen sowie
Psychoanalytische Organisationsberatung.

Allerdings erschließt sich dem Leser die Zuordnung der Beiträge zu den einzelnen Schwerpunkten nicht umstandslos. Hilfreich sind dagegen die kurzen prägnanten Zusammenfassungen, die jedem Aufsatz vorangestellt sind.

Inhalt und Diskussion

Die ausgewählten Aufsätze nehmen in unterschiedlicher Akzentuierung drei zentrale Fragen in den Blick:

1. Was bedarf Psychoanalyse in Bezug auf arbeitsweltliche Fragen im Unterschied zur Psychoanalyse im therapeutischen Kontext?
2. Was sind allgemeine Phänomene unbewusster Prozesse in Organisationen?
3. Wie realisiert sich psychoanalytisch orientierte Organisationsberatung praktisch?

Ad 1

Der Frage, was psychoanalytisches Denken bezüglich organisationaler Phänomene bedarf, widmen sich insbesondere Alastair Bain, Dieter Ohlmeier, Hansjörg Becker und Susan Long. Wesentlich scheint hier, dass Psychoanalyse in Bezug auf Organisationen unbewusste Arbeitsbeziehungen untersucht, dazu ihre klinischen Erfahrungen zum Diagnostizieren von Störungen von Arbeitsbeziehungen nutzt und die Arbeitsbeziehungen vor dem Hintergrund der Organisation interpretiert. Im Unterschied zum therapeutischen Denken ist die Deutungsperspektive in Organisationen also keine familialistische, sondern eine organisationsbezogene. (Becker S. 53 ff.)

Das wirft freilich die Frage nach einer genuin psychoanalytisch fundierten Organisationstheorie auf, die von den Autoren mehr oder weniger deutlich beantwortet wird. Zentrale Begriffe sind in diesem Zusammenhang:
• primär Aufgabe/ primär Risiko;
• Containment; Paranoid-schizoide (PS)-depressive Position (D);
• psychosoziale Angstabwehr sowie
• organization in the mind.

Dabei bleibt weiter zu erörtern und zu diskutieren, ob es sich hier tatsächlich um eine psychoanalytisch fundierte Organisationstheorie handelt oder doch »nur« um das Übertragen psychoanalytischer Begrifflichkeiten aus dem therapeutischen Kontext auf Organisationen.

Ad 2

Die Frage nach allgemeinen Phänomenen unbewusster Prozesse in Organisationen, beantworten insbesondere W. Gordon Lawrence, Susan Long; Burkard Sievers, Howard F. Stein, Martin Bowles, Wilhelm Skogstad und Douglas Kirsner.

Wie für alle theoretisch fundierten Zugänge zur Welt organisationaler Wirklichkeit gilt auch für die psychoanalytische Organisationsperspektive: sie sieht, was sie durch ihre begriffliche Brille sehen kann. Es überrascht daher nicht, dass in den unterschiedlichen Aufsätzen vor allem kollektive Regressionsphänomene, soziale Abwehrprozesse, psychotische Tendenzen sowie Widerstands – und Übertragungsgeschehen thematisiert und beschrieben werden. Auffällig ist indes der mehr oder weniger starke empörend-beklagend-enthüllende Duktus der jeweiligen Ausführungen. Die Analysen scheinen eher der Logik der Entlarvung bestehender Verhältnisse als einem demütig-verstehenden Zugang zur Welt zu folgen. In der Folge wirken die ungeachtet dessen erkenntnisreichen Texte eigentümlich losgelöst von den empirischen Erscheinungen organisationaler Wirklichkeit, zu deren Erschließung sie doch gerade beitragen wollen.

Ad 3

Wie sich die Praxis psychoanalytisch orientierter Organisationsberatung gestalten kann, zeigen vor allem W. Gordon Lawrence, Hanna Biran, Rose Redding Mersky, Tania Nahum, Jutta Lutzi und Ullrich Beumer.

Die einzelnen Beiträge bieten aufschlussreiche Fallschilderungen, in denen sich die hohe Expertise der Autoren respektive der psychoanalytisch orientierten Berater ausdrückt. Zugleich stellt sich die Frage, inwiefern psychoanalytisch orientierte Organisationsberatung jenseits des einzigartigen Verstehenszugangs über ein genuines Interventions-/ Methodenrepertoire verfügt. Die von W. Gordon Lawrence vorgestellte Methode sozialen Träumens, könnte in diesem Zusammengang ein Kandidat sein (W. Gordon Lawrence S. 97). Es bleibt allerdings zu diskutieren, inwiefern die Deutung von Träumen in berufsspezifischen organisationalen Beratungszusammenhängen der Sache professioneller Beratung gerecht wird oder Entgrenzung begünstigt.

Fazit

Wer sich mit dem (deutschsprachigen) Diskurs um das Unbewusste in Organisationen vertraut machen will, kommt um die Zeitschrift »Freie Assoziation« nicht herum. Der vorliegende Sammelband bündelt anlässlich des fünfjährigen Jubiläums des »deutschsprachigen Organs für das Unbewusste in Organisation und Kultur« besonders lesenswerte Beiträge aus den Jahren 1998-2002. Für mit psychoanalytischem Denken nicht vertraute Leser dürften die Texte eine Herausforderung darstellen. In diesem Sinne ist das vorliegende Buch keine Einführung, sondern ein wesentlicher Beitrag psychoanalytischen Denkens zu organisationalen Fragen sowie darauf bezogene beratungspraktische Antworten. Damit im Zusammenhang bieten die Beiträge keinen Überblick über die Bandbreite psychoanalytisch fundierter Organisationszugänge, sondern Einblick in ein spezifisches psychoanalytisches Organisationsverständnis.

Wenn Organisationen Lust und Leid evozieren können, so liegt der Fokus des Sammelbandes auf dem Aufdecken von Leid und dessen Ursachen. Die Auseinandersetzung mit der Lust an Organisationen und dem Nutzen von Organisationen wäre ein anderes Buch.

Ronny-Markus Jahn. Rezension vom 22.03.2016 zu: Burkard Sievers (Hrsg.): Das Unbewusste in Organisationen. Freie Assoziationen zur psychosozialen Dynamik von Organisationen ; Beiträge aus 5 Jahren Freie Assoziationen. Psychosozial-Verlag (Gießen) 2003. ISBN 978-3-89806-284-8. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, http://www.socialnet.de/rezensionen/20186.php

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