Rezension zu Die Coen-Brüder (PDF-E-Book)

Ray. Filmmagazin 11/14

Rezension von Harald Mühlbeyer

Drei Stufen des psychoanalytischen Verstehens formuliert Andreas Hamburger in seinem Beitrag zu No Country For Old Men: Das Begreifen der manifesten Handlung, das Nacherleben der Intention und das szenische oder psychoanalytische Verstehen, »das die unbewusste Teilhabe des Zuschauers an der dargebotenen Interaktionform reflektiert«. So legt nicht nur der psychoanalytisch geschulte Zuschauer den Film auf die Couch, nein: Er sitzt im Kino als Analytiker seiner selbst. Auf diese Weise kann die psychoanalytische Betrachtungsweise dem Film eine Menge abgewinnen, weit über die allfälligen ödipalen Konflikte hinaus, die in ungefähr jeder dramatischen Spielhandlung drinstecken: Wirkung und perspektivische Dynamik geraten ins Blickfeld – und dafür sind die Filme der Coen-Brüder wie geschaffen. Auf Grundlage eines Symposiums in dem Filmwissenschaft und Psychoanalyse in Dialog traten, versammelt der vorliegende Band zwölf Aufsätze, die sich mit fast allen Coen-Filmen auseinandersetzen; und auch wenn einige wenige Beträge kaum über eine ausführliche analytische Filmbeschreibung hinausgehen oder insbesondere der Aufsatz zu Fargo sein Thema, die Betrachtung der coenschen Strategie der Erwartungsverletzung und die daraus folgende Komik, verfehlt, finden sich bemerkenswerte Betrachtungen zum Coen-Œuvre.

Filmkritiker Manfred Riepe legt einen grundsätzlichen Text vor, in dem er das typische Scheitern der Coen-Antihelden betrachtet; und zwar in durchaus plausiblem Schulterschluss mit Freud mit Bezug zu zwanghaften Verhaltensstrukturen, die sich zur »Schicksalsneurose« aufschwingen, unglaubwürdige Väter und Zirkelstrukturen inklusive. Filmwissenschaftler Marcus Stiglegger gibt einen fundierten Überblick über klassischen Film Noir, Neo-, Retro- und Meta-Noir anhand von Barton Fink.

Direkt im Anschluss: Das Bekenntnis des Psychoanalytikers Stefan Hinz, sich bei eben diesem Film hilflos verirrt zu haben: »Im Film steckt mehr, als in meinen Kopf passt« – und: »Meine Versuche, darin eine weiter reichende Absicht [...] zu entdecken, schlagen fehl.« Und gerade aus dieser Ratlosigkeit heraus kommt der Film noch einmal anders zum Schwingen, in all seiner Mehrdeutigkeit und Rätselhaftigkeit. Von der Wirkung her kommt auch Andreas Hamburger, der sich nach der ersten Sichtung von No Country For Old Men »wie in eine Art Trance versetzt« fand und nun tiefschürfend nach dem Unsichtbaren im Film fahndet. Dem Schaffen des Coens kann der Band nicht vollständig auf die Spur kommen – wer könnte das schon? Doch wichtige Hinweise, plausible Ideen, bemerkenswerte Aspekte geraten in den neugierigen Blick. Ein in jeder Hinsicht anregendes Buch.

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