Rezension zu Schreiben und Scham
www.juttareichelt.com
Rezension von Jutta Reichelt
Wer schreibt, dem begegnet die Scham. Manche haben ständig mit ihr
zu kämpfen, um andere scheint sie einen Bogen zu machen – und
schlägt dann kurz vor der Abgabe einer wichtigen Arbeit zu. Über
die unterschiedlichen Formen und Funktionen der Scham und warum das
schwierige Schreiben über Schambehaftetes zugleich hilfreich sein
kann, darüber informiert ungemein interessant und vielseitig der
Sammelband »Schreiben und Scham. Wenn ein Affekt zur Sprache
kommt«, herausgegeben von Monique Honegger.
»Das ist doch viel zu schlecht!« (Kompetenzscham); »Was verrate ich
damit über mich? Ist das nicht viel zu persönlich?«
(Intimitätsscham) »Das kann ich dir unmöglich schicken!«
(Zeigescham). Die Scham zeigt sich in unterschiedlichen Situationen
und je stärker sie Besitz von uns ergreift, desto weniger sind wir
in der Lage, sie zu erkennen, sondern starren nur noch auf den
(vermeintlich) missratenen Text, der vor uns liegt. Hat jemals ein
Mensch etwas so Belangloses geschrieben?
Wenn wir uns diese bange Frage stellen, wenn wir in einem zweiten
Schritt weiterfragen, ob aus diesem sagenhaft schlechten, nicht
irgendwie ein halbwegs guter Text werden könnte und wie das
anzustellen ist – dann sollten wir der Scham einmal freundlich
zuwinken, denn ohne sie würden wir vermutlich bedenkenlos jede
»Trivialitätsschwelle« unterschreiten und uns erst gar nicht um
»literarische« oder andere Kriterien Gedanken machen.
Wie alle anderen Gefühle auch, hat die Scham also auch eine
positive Seite, ist nicht nur Barriere, sondern auch Türe und das
Durchschreiten dieser »Schamtüre« (Honegger) ermöglicht oft erst
Entwicklungsschritte, die sonst unterblieben wären. Alles gut also?
Leider nicht, denn die Scham kann Gefühle des Selbstversagens
verursachen, die noch über, manchmal sehr ähnlichen daherkommende,
Schuldgefühle weit hinaus gehen: Flüstert die Schuld uns ins Ohr:
»Das hast du schlecht gemacht«, raunt die Scham: »Du bist schlecht«
und nimmt damit die ganze Person und nicht ein (korrigierbares)
Verhalten in den Fokus.
Aus welchen Quellen kindlichen Erlebens sich ein solch machtvolles
Gefühl des Ungenügens nährt, wie wir im Schreiben sowohl passive
Wünsche nach Anerkennung und aktive nach »frecher Präsentation«
(»Schaut, da bin ich!«) realisieren, darüber schreibt Markus Fäh
sehr gut les- und nachvollziehbar in seinem Beitrag »Hölle und
Glückseligkeit. Psychoanalytische Überlegungen zur Scham beim
Schreiben«. Zudem beantwortet er die Frage, warum wir uns dieses
Wechselbad der Gefühle überhaupt antun. Was haben wir schreibend zu
gewinnen? »Wir müssen uns im Schreiben dem Schamproblem stellen,
sonst können wir gar nicht anfangen zu schreiben, wir können es im
Schreiben aber auch meistern, weil wir all das, was wir schreiben,
nicht wirklich tun müssen.« Wir müssen es nicht nur nicht tun, wir
können damit spielen, wir können unseren gegensätzlichen Wünschen
Ausdruck und Gestalt geben und dadurch »kreative Lösungen« auch da
finden, wo sie uns in der Realität nicht möglich waren oder
sind.
Zwei Beispiele dafür, wie das Schreiben über Schambehaftetes sehr
konkret helfen kann, Scham zu überwinden, liefert der Beitrag
»Schreiben statt schämen – Mit Sprache aus der Enge finden« von
Elena Ibello, Andrea Keller und Daniel Perrin. »Wir sind arm« war
der Titel einer Schreibwerkstatt, die Andrea Keller 2010 im Auftrag
der Caritas Zürich realisierte und in der von Armut Betroffene
selbst zu Wort kamen. Es braucht keine große Phantasie um sich
vorzustellen, wieviel Scham dafür von den Teilnehmenden zu
überwinden war und was es andererseits für sie bedeutete, eigene
Kreativität (wieder) zu entdecken und sich schließlich von
»Armutsbetroffenen, die gerne schreiben« in »Schreibende, die von
Armut betroffen sind« zu wandeln. (Das andere Projekt »Schreiben
über das Sterben« richtete sich an eine sehr heterogene
TeilnehmerInnen-Gruppe und wollte Erkenntnisse zu der Frage
befördern, was diese jeweils motiviert, sich mit dem Thema zu
beschäftigen und welche Form sie dafür jeweils wählen.)
Es gibt sowohl weitere Beiträge, die eher Grundsätzliches
behandeln, wie z. B. »Scham, Schuld, Schreiben« von David Garcia
Nuñez und Matthias Jäger oder »Scheitern, Scham und Produktion« von
Geri Thomann, aber auch solche, die konkreteren Fragestellungen
nachgehen, wie etwa eine sehr interessante Fallanalyse des
Spielfilms »The Words« von Daniel Ammann (in diesem Film geht es um
einen Schriftsteller, der ein fremdes Manuskript als eigenes
ausgibt, großen Erfolg damit hat und später dem tatsächlichen
Urheber begegnet). Das vollständige Inhaltsverzeichnis lässt sich
auf der Verlagsseite des Psychosozial-Verlags einsehen.
Ich habe das Buch vor einigen Monaten entdeckt, ich habe es rasch
und begeistert gelesen und nun für diesen Beitrag ein zweites Mal
konzentrierter und nicht weniger begeistert. Obwohl ich mich dem
Thema schon aus unterschiedlichen Perspektiven genähert habe,
obwohl in meinem Alltag das komplementäre Thema Ermutigung bereits
eine große Rolle gespielt hat, sind mir durch die Lektüre einige
grundlegende Aspekte erstmals klar geworden. Für Menschen, die
professionell Schreibprozesse Anderer begleiten, ist dieser
Sammelband also eine absolute Bereicherung und uneingeschränkt zu
empfehlen! Und Ähnliches gilt vermutlich auch für Menschen, denen
die Scham beim Schreiben sehr im Nacken sitzt: Zu lesen, dass es
(vielen) anderen ähnlich geht, dass der Umgang mit der Scham
genauso ein (Lern)-Prozess sein kann, wie das Schreiben selbst und
dass sie uns da, wo sie uns so richtig im Griff zu haben scheint,
mehr über uns als über unsere Texte erzählt, kann vielleicht schon
etwas Bewegung in die manchmal so festgefahrene Angelegenheit
bringen …
www.juttareichelt.com