Rezension zu Vom Glück der Großeltern-Enkel-Beziehung (PDF-E-Book)
Psychologie Heute, Dezember 2015
Rezension von Gabriele Michel
Die perfekten Begleiter
Drei Bücher widmen sich der Beziehung zwischen Großeltern und
Enkelkindern
»Meine Oma fährt im Hühnerstall Motorrad ...« Sie singen es heute
noch, im Kindergarten, auf dem Spielplatz – und bringen dabei in
wenigen Zeilen die Essenz dessen zum Ausdruck, was mittlerweile
Erfahrungen und Wissenschaft belegen: Es gibt eine besondere
Verbundenheit zwischen Großeltern und ihren Enkelkindern, die
stärkend und lustvoll sein kann.
Das ist auch der Tenor von Günter Heisterkamps Buch »Vom Glück der
Großeltern-Enkel-Beziehung. Wie die Generationen sich wechselseitig
fördern.« Der renommierte Psychoanalytiker und Autor will aufräumen
mit dem Klischee der verwöhnenden Großeltern. Ihn interessiert, wie
das transgenerationale Beziehungsgefüge psychologisch funktioniert,
wie sich daraus sowohl Glücks- als auch Unglückserfahrungen
entwickeln. Dabei gilt sein Augenmerk vor allem der gelingenden
Enkel-Großeltern-Beziehung; auf mögliche Fehlentwicklungen und
Gefahren weist er meist nur am Rande hin.
Heisterkamps Beobachtungen und Kommentaren liegen eigene
Erfahrungen mit seinen sechs Enkelkindern zugrunde, die er unter
alltagspsychologischen, salutogenetischen und biografischen
Gesichtspunkten betrachtet. Außerdem zieht er Beispiele aus der
Literatur und darstellenden Kunst hinzu. In vielen anschaulichen
Geschichten macht der Autor deutlich, inwiefern und warum
Großeltern für ihre Enkel die perfekten Begleiter bei neuen
Entwicklungsschritten sein können: Sie sind als Eltern der eigenen
Eltern dem Kind so nah, dass es sich ihnen anvertrauen kann - und
doch hinreichend weit entfernt, um nicht jene Trennungsängste
auszulösen, die das Kind immer wieder daran hindern, autonome
Schritte weg von den Eltern zu riskieren. Mit seinen Großeltern
kann das Kind Expeditionen - der lateinische Wortstamm steht für
»sich aus den Fußfesseln befreien« -wagen, weil sie die Möglichkeit
der Rückkehr zum Vertrauten repräsentieren. Zu dieser Dynamik
liefert Heisterkamp interessante Anekdoten und aufschlussreiche
Überlegungen. Gleichzeitig betont er immer wieder, dass die
stärkende, belebende Wirkung auch in die andere Richtung verläuft:
»Meine Glückserfahrungen mit den Enkeln veränderten noch einmal die
Wahrnehmung meines eigenen Ankommens in der Welt.« Mit berührender
Dankbarkeit schildert der Autor, wie in ihm durch das bloße Erleben
seiner Enkel und durch die Erlebnisse mit ihnen Blockaden gelöst,
ein gewandeltes Verständnis seiner selbst und neue Zugänge zur
eigenen Freude freigesetzt wurden.
Wolfgang Krüger hat eine andere Perspektive: Er schreibt nicht als
Großvater, sondern als Psychologe und Psychotherapeut. Dabei hat er
ein tieferes Verständnis der eigenen Persönlichkeit und des eigenen
Lebens durch die Auseinandersetzung mit den Großeltern im Blick.
Ausgehend von seiner eigenen Familienerforschung, will er die Leser
anregen, sich ihrerseits mit der eigenen Familiengeschichte
vertraut zu machen. »Die Geheimnisse der Großeltern. Unsere Wurzeln
kennen, um fliegen zu lernen« lautet der Titel seines Buches, in
dem er eher in die Vergangenheit blickt - (noch) lebende Großeltern
kommen nur gelegentlich vor. Manche der Anregungen Krügers sind
einleuchtend, etwa die, auf den Spuren der Großeltern zu reisen und
ihr Lebensmotto zu ergründen. Als motivierende Begleitung bei der
Erforschung der eigenen Familiengeschichte hat das Buch mithin
sicher seinen Wert. Das Potenzial der Beziehung zwischen Großeltern
und Enkeln aber entfaltet es nur punktuell.
Das gilt strenggenommen auch für Tilmann Mosers Sammlung
psychoanalytisch-körpertherapeutischer Fallgeschichten über
»Großmütter, Mütter und Töchter«. Im Zentrum stehen immer Frauen
und ihre Mütter; Großmütter spielen eine eher marginale Rolle. Aber
Moser verweist eindringlich auf die Notwendigkeit, in der Therapie
immer auch nach den Großeltern zu fragen, um Zugang zu
transgenerationalen Konflikten zu bekommen: »Manchmal gleichen die
Beziehungen einer dankbar empfundenen Nähe, manchmal sehen sie aus
wie von Stacheldraht umschlungene Verstrickungen, bei denen jede
Bewegung der einen Person bei der anderen Wunden aufreißt und
vertieft.«
Bei Moser stehen die schmerzhaften Verbindungen im Vordergrund.
Doch er schreibt darüber so gelassen, berührbar und, ja, spannend,
dass der Erkenntnisgewinn bei der Lektüre die Bedrängnis überwiegt.
Gemeinsam ist Moser und Heisterkamp, dass sie immer das ganze
Familiengefüge über Generationen hinweg im Blick haben. Bei Moser
zeigt sich das in vielen seiner deutenden Anmerkungen, bei
Heisterkamp in dem Engagement, mit dem er ausführt, wie die
Enkel-Großeltern-Beziehung sowohl die Verbindung zwischen ihm und
seinen Kindern als auch zwischen ihm und seinen Eltern verändert,
wie Verstrickungen gelöst, Wunden geheilt werden können. Dadurch,
dass er seine Enkel erlebt, gewinnt er als Sohn mehr Verständnis
für die eigenen Eltern und gleichzeitig als Vater Einsicht in
frühere (Fehl-)Entwicklungen in der Beziehung zu seinen Töchtern.
Schließlich kann er mitunter durch seine veränderte (Selbst)
Wahrnehmung seinen Kindern deren Kinder (seine Enkel) erklären.
Die Hinweise auf die komplexen Familiendynamiken sind bei Moser
Teil seines praxisorientierten, erfahrungsgesättigten Erzählens.
Heisterkamp erklärt solche Wechselbeziehungen, indem er auf
anschaulich skizzierte theoretische Konzepte etwa von Margaret
Mahler und Donald Winnicott zurückgreift. Allerdings liest sich
sein Buch immer wieder eher wie eine Studie zu
Entwicklungspsychologie und Familiendynamik. Präsent bleibt sein
Thema dennoch, weil er klar aus der Perspektive des Großvaters
heraus wahrnimmt und argumentiert. Dass er das mit so viel
unverhohlener Liebe, Dankbarkeit und Euphorie tut, macht das Buch
sympathisch. Wer gebündelte, statistisch fundierte
Forschungsergebnisse erwartet, wird von allen drei Büchern eher
enttäuscht sein. Vielleicht entzieht sich die Beziehung zwischen
Enkeln und Großeltern ja auch dem disziplinierenden Zugriff der
Wissenschaft, bewahrt sich so ihre Vielgestaltigkeit, den Reiz des
Unvorhersehbaren – und das Anarchische der motorradbegeisterten
Oma.