Rezension zu Verborgene Wunden

Zeitschrift für Allgemeinmedizin 10/2015

Rezension von Paul Kokott

Spätfolgen politischer Traumatisierung in der DDR

Das Buch informiert anschaulich und aufschlussreich über die selbstzerstörerischen Wirkungen und Folgen der Tätigkeit der Staatssicherheit der ehemaligen DDR für das Gemeinwesen zum Schutz, dem Erhalt und der Sicherung der Macht der SED-Funktionsträger. Etwa seit Mitte der siebziger Jahre erfolgte eine Forcierung der Überwachungsmaßnahmen - siehe auch Richtlinie 1/76 – der eigenen Bevölkerung, die durch eine beträchtlich aufgestockte Anzahl von haupt- und nebenberuflichen Mitarbeitern der Staatssicherheit durchgeführt wurde.

Kompetente Autoren vermitteln in den verschiedenen fundierten Beiträgen Erkenntnisse, Erfahrungen, Eindrücke unter Berücksichtigung und Einbezug von Erlebnisberichten Betroffener zu den unterschiedlichen relevanten Themen, angefangen von den seelischen Folgen von Zersetzung und politischer Haft in der DDR/SBZ. Die staatlich geplante »Zersetzung« basierte auf Konzepten der »Operativen Psychologie«. Dieser Begriff wurde durch das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) der DDR geprägt und umfasste alle in der im Januar 1976 in Kraft getretenen Richtlinie Nr. 1/76 zur Entwicklung und Bearbeitung Operativer Vorgänge (OV) definierten Zersetzungsmaßnahmen - bis hin zu den Auswirkungen der Verfolgung auf die Familien von politisch Verfolgten und empirischen Studien über gesundheitliche Auswirkungen politischer Verfolgung in der DDR/SBZ. Auch 25 Jahre nach der Wiedervereinigung leidet etwa ein Drittel der damals politisch Inhaftierten an einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS). Darüber hinaus finden sich ein hoher Anteil depressiver Störungen und verschiedene Angsterkrankungen. Weitere Kapitel informieren über Behandlungsmöglichkeiten anhand von Fallbeispielen sowie u.a. zu Forschungsergebnissen der Auswirkungen politischer Verfolgung der SED-Diktatur auf die zweite Generation. Einen wichtigen Aspekt der Traumafolgen beleuchtet Jörg Frommer in seinem Beitrag zur Realitätsverleugnung als Folge politischer Traumatisierung. Einen ausgezeichneten Überblick zur Situation psychischer Erkrankungen durch politische Verfolgung in der DDR gibt der Beitrag von Carsten Spitzer. Vierzig Jahre lang bestand neben dem offiziellen, sich selbst als demokratisch und gar humanistisch gebenden »Staatsalltag« der DDR eine zweite »Schattenwirklichkeit«, in der viele DDR-Bürger überwacht, eingeschüchtert, an ihrer Selbstverwirklichung gehindert und politisch verfolgt, im schlimmsten Fall sogar inhaftiert wurden. Die offiziellen Gründe für eine politische Verfolgung gemäß dem Strafgesetzbuch der DDR bezogen sich auf »staatsfeindliche Hetze« (§106), Wissen über/Beihilfe zum oder versuchter »ungesetzlicher Grenzübertritt« (§ 213; die sogenannte Republikflucht), »Beeinträchtigung staatlicher Tätigkeit« (§ 214) und »öffentliche Herabwürdigung« (§ 220).

Unter den politischen Häftlingen stellte die Gruppe der sogenannten Republikflüchtlinge mit 40 bis 50 Prozent die größte Gruppe dar. Der bloße Verdacht auf politisches Fehlverhalten respektive auf Taten, die vom MfS als politisch motivierte Straftat interpretiert wurden, reichte aus, um als »Zielperson« für repressive Maßnahmen eingeschätzt zu werden. Die politische Verfolgung hatte für die Betroffenen erhebliche psychosoziale Auswirkungen, denn sie sollte das Selbstvertrauen erschüttern, das Selbstwertgefühl untergraben sowie Angst, Verwirrung und Misstrauen erzeugen. Bei den Haftbedingungen wurden im Verlauf der sechziger Jahre offene Foltermethoden zunehmend durch die sogenannte »weiße Folter« ersetzt, die zwar keine unmittelbar physische Gewalt umfasste, aber dafür indirekte und psychologisch ausgeklügelte Methoden differenziert einsetzte. Abschließend sei auf die in ihr Gegenteil verkehrten fünf Dimensionen der politischen Lebenswelt in Verfolgerstaaten wie der DDR Ohnmacht, Unrecht, Unwahrheit, Unfreiheit und Nicht-Öffentlichkeit im Beitrag von Freihart Regner, die Behandlungsmöglichkeiten von Traumafolgestörungen im Beitrag von Doris Denis und die Probleme in der aktuellen Begutachtungspraxis psychischer Traumafolgestörungen, dem Beitrag von Ruth Ebbinghaus, hingewiesen.

Insgesamt ein überaus lesenswertes Buch, das wesentlich zum Verständnis der Lebenswirklichkeit in der DDR beiträgt und nachhaltig jedem an diesem Thema Interessierten zur Lektüre empfohlen werden kann.

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