Rezension zu Wagnis Solidarität
FriedensForum. Zeitschrift der Friedensbewegung 2/2016
Rezension von Christine Schweitzer
»Wagnis Solidarität – Zeugnisse des Widerstehens angesichts der
NS-Gewalt« ist das Gemeinschaftswerk eines Psychotherapeuten und
einer Lehrerin, die sich seit vielen Jahren mit der Nazi-Zeit und
ihrer psychischen und politischen Aufarbeitung bis heute befassen,
insbesondere mit dem KZ Dachau – dem Ort, in dem die beiden leben.
Das Buch befasst sich vor allem mit Menschen, die in der Nazi-Zeit
verfolgt wurden, weil sie KommunistInnen waren. In einer Vielzahl
persönlicher Zeugnisse, die die AutorInnen teilweise selbst
sammelten, teils in Archiven fanden, dokumentieren sie Formen des
Widerstands.
Das Buch beginnt mit Erinnerungen von Verfolgten der Nazizeit. Zwei
wiederkehrende Themen sind dabei bemerkenswert: Zum einen das
Beispiel von Frauen, deren Männer ins KZ gesteckt worden waren und
die mit viel Mut erreichten, dass ihre Männer wieder freigelassen
wurden – in einem Fall sogar gleich zweimal. Sie taten dies, indem
sie zu den Verantwortlichen Nazis gingen und sich nicht abweisen
ließen. Zum zweiten geht es um die vielen kleinen und großen Formen
der Solidarität in den Konzentrationslagern – wie Männer, die
selbst hungern, trotzdem Essen für jene abzweigten, die noch
weniger hatten, wie ein Mann es auf sich nahm, ausgepeitscht zu
werden, anstatt ihm Untergebene zu denunzieren, wie ein ganzes
Netzwerk von Gefangenen Kinder versteckte und vieles mehr.
An die Zeugnisse von neun KZ-Häftlingen aus Dachau und deren
Ehefrauen schließt sich eine Auswertung des Beschriebenen durch die
AutorInnen an. Dort fragen sie u.a., woher die Kraft für
Widerstand, Widerstehen und Solidarität kam und fassen einige
Gemeinsamkeiten aus den Lebensbeschreibungen zusammen (S. 145f).
Dazu gehörten u.a. eine humane Grundeinstellung, insbesondere ein
starkes Gerechtigkeitsgefühl, auslösende, prägende Ereignisse, das
Vorhandensein von Vorbildern, Zusammengehörigkeit in Gruppen und
große Klarsicht für soziale und gesellschaftliche Verhältnisse.
Danach wenden die AutorInnen sich der Zeit nach 1945 zu. Für viele
LeserInnen sicherlich überraschend wird sein, dass Widerstand und
Solidarität in vielen Familien zum Tabuthema wurde. Anstatt offen
und mit Stolz darüber zu sprechen, dass man nicht zu den Nazis
gehörte, haben viele ihre Geschichte schamhaft verschwiegen.
Teilweise, weil auch nach 1945 in Behörden und privaten Umfeld
Nazis weiter präsent waren. Teilweise, weil insbesondere
Kommunisten auch in der frühen BRD verfolgt wurden – bis zu dem
Punkt, dass sie keine Entschädigung für ihre KZ-Haftzeiten
erhielten. In der DDR umgekehrt wurde kommunistischer Widerstand
eher verherrlicht, aber dafür Menschen mit anderen Biographien
(etwa ehemalige »KapitalistInnen«) unter Druck gesetzt.
Weitere Kapitel in dem Buch befassen sich mit pädagogischen und
psychotherapeutischen Fragen der Aufarbeitung und der
Langzeitfolgen der Zerstörung mitmenschlicher Solidarität. Die
beiden AutorInnen schließen mit der Situation des Jahres 2015 – der
großen Zahlen der Geflüchteten, die das letzte Jahr nach
Deutschland gekommen sind: »Aus unserer Perspektive einer
30-jährigen Beschäftigung mit den seelischen Nachwirkungen der
NS-Zeit und vor dem Hintergrund der in diesem Buch
zusammengetragenen Beispiele eines solidarischen Widerstehens
erscheint es uns … plausibel, Zusammenhänge zwischen dieser oft so
hartherzigen Abschottungspolitik und der gigantischen Zerstörung
von Mitmenschlichkeit anzunehmen, welche unsere Nazi-Vorfahren in
Deutschland, in Europa und in der Welt überhaupt angerichtet haben.
… Es gibt nicht nur Finanz- und Wirtschaftskrisen, sondern auch
eine weltweite Solidaritätskrise.« (S. 295f). Sie plädieren dafür,
dass an die Stelle vom »Großen Vergessen« Erinnerung treten solle.
»Solidarität wagen ...«, mit diesem Satz endet dieses so überaus
beeindruckende Buch voll von Geschichten mutiger einfacher
Menschen, die in der NS-Zeit das Wagnis eingingen, Widerstand und
Solidarität zu üben.