Rezension zu Transgender-Gesundheitsversorgung
Zeitschrift für Sexualforschung, Heft 3, 28. Jahrgang, September 2015
Rezension von Werner Ettmeier
Mit einem Geleitwort von Peer Briken legen Hertha Richter-Appelt
und Timo O. Nieder die offizielle deutsche Übersetzung der 2011
erschienenen 7. Version der Standards of Care (SoC 7) der World
Professional Association for Transgender Health (WPATH) vor. Es
handelt sich dabei um Behandlungsempfehlungen für transsexuelle,
transgender und geschlechtsnichtkonforme Menschen, die dazu
beitragen sollen, dieser Personengruppe weltweit eine
gesundheitliche Versorgung in möglichst hoher Qualität zu
ermöglichen. Im Mittelpunkt steht dabei das Leiden an der
Diskrepanz zwischen dem Geschlechtsidentitätserleben und dem bei
der Geburt zugewiesenen Geschlecht, wie es mit dem Begriff der
Geschlechtsdysphorie nach DSM-5 beschrieben ist. Die
Versorgungsempfehlungen beziehen sich sowohl auf somatomedizinische
als auch auf beratende und psychotherapeutische Behandlungsansätze.
Unter ethischen Aspekten werden Behandlungen, die darauf abzielen,
die Geschlechtsidentität und den Ausdruck der Geschlechtlichkeit
mit dem bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht in Übereinstimmung
zu bringen, in den SoC 7 als nicht mehr vertretbar angesehen. Auch
für den Umgang mit Geschlechtsdysphorie bei Kindern und
Jugendlichen werden Empfehlungen abgegeben. Da nur ein Teil der
Kinder mit geschlechtsnichtkonformen Verhaltensweisen bis zum
Erwachsenenalter eine Geschlechtsdysphorie entwickelt, muss dabei –
sofern im Jugendalter somatomedizinische Behandlungen zur
Diskussion stehen – die Abwägung von Nutzen und Risiken bei
vollständig und partiell reversiblen bzw. irreversiblen
Interventionen besonders gründlich erfolgen.
Die Autoren haben sehr viel Wert auf eine gute Lesbarkeit gelegt.
Die Übersetzung der Behandlungsempfehlungen ist unter diesem Aspekt
hervorragend gelungen. Bei der Lektüre stellt sich nie das Gefühl
ein, einen ursprünglich englischsprachigen Text vor sich zu haben.
Die Übersetzung ist gewandt formuliert und liest sich ausgesprochen
flüssig. Hilfreich sind die Kommentare, die auf die
Versorgungssituation in Deutschland eingehen. Sie sind mit
akribischer Genauigkeit ausgearbeitet und nehmen engen Bezug zur
Übersetzung. Im Kapitel über die »Reproduktive Gesundheit«, in dem
es um die Möglichkeiten der Reproduktionsmedizin im Zusammenhang
mit geschlechtsangleichenden medizinischen Maßnahmen geht, vermisst
man allerdings Kommentare zur medizinischen und rechtlichen
Situation hierzulande. Dies ist bedauerlich, jedoch angesichts der
Komplexität dieser Problematik insofern nachvollziehbar, als eine
eigentlich notwendige ausführliche Kommentierung vermutlich den
Rahmen einer Übersetzung sprengen würde.
Das besondere Verdienst dieses Buches liegt in den beiden von
Richter-Appelt und Nieder verfassten Beiträgen, die der
eigentlichen Übersetzung vorangestellt werden.
Im Eingangskapitel wird die Entwicklung der Versorgungsempfehlungen
seit der ersten Version der Standards of Care aus dem Jahre 1979
der damaligen Harry Benjamin International Gender Dysphoria
Association (seit 2007 World Professional Association for
Transgender Health) dargelegt. Die Tradition,
geschlechtsdysphorischen Personen erst dann hormonelle und
chirurgische Behandlungen zuzugestehen, wenn sie – je nach
geplanter Maßnahme mit unterschiedlicher Dauer – schon vorher in
der angestrebten Geschlechterrolle gelebt hatten, geht auf diese
ersten Behandlungsempfehlungen zurück. Diese Voraussetzung wurde
als Alltagstest und ab der 5. Version der SoC (1998) als
Alltagserprobung bezeichnet. In der 6. Version der SoC (2001)
wurden brust-und genitalchirurgische Maßnahmen auch dann als
indiziert erachtet, wenn vorher keine Hormonbehandlung in Anspruch
genommen wurde. Die ersten SoC aus 1979 und die folgenden Versionen
dienten in erster Linie der Auswahl geeigneter Kandidatinnen und
Kandidaten für somatische Behandlungsmaßnahmen sowie der
Rückversicherung der Behandelnden. Im Gegensatz dazu verfolgen die
SoC 7 vor dem Hintergrund einer sich wandelnden gesellschaftlichen
Perspektive das Ziel, geschlechtsinkongruente Menschen zu
entpathologisieren und den sich persistent geschlechtsdysphorisch
erlebenden Personen den Zugang zum Gesundheitssystem zu
erleichtern. Während frühere Versorgungsempfehlungen auf einen
vorwiegend linearen Behandlungsverlauf – zunächst Diagnostik, dann
Psychotherapie und Alltagserfahrungen, schließlich hormonelle und
chirurgische Interventionen – abzielten, können die
Behandlungsmaßnahmen auf der Basis der SoC 7 differenziert auf die
individuellen Gesundheitsbedürfnisse abgestimmt werden. Den Autoren
ist es vortrefflich gelungen, diesen Paradigmenwechsel von früheren
Versionen zu den SoC 7 prägnant zur Darstellung zu bringen.
Das zweite Eingangskapitel wurde zusammen mit Susanne Cerwenka
verfasst und vergleicht die gegenwärtige Versorgungssituation in
Deutschland mit den Empfehlungen der SoC 7. Nach einem Exkurs über
epidemiologische Aspekte und die Veränderung der diagnostischen
Perspektive von der Transsexualität des ICD 10 hin zur
Geschlechts-dysphorie des DSM-5 werden anhand ausgewählter Aspekte
die Anforderungen der Begutachtungsrichtlinie des Medizinischen
Dienstes des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen (MDS 2009)
dargestellt und vor dem Hintergrund des aktuellen Wissenstandes im
Vergleich mit den SoC 7 hinterfragt. Beispielsweise werden das
mittlerweile als überholt geltende Konzept des primären und
sekundären Transsexualismus, die in den MDS-Richtlinien vorgegebene
Priorisierung langfristiger psychiatrischer und
psychotherapeutischer Behandlungen als unabdingbare Voraussetzungen
für hormonelle und chirurgische Interventionen sowie die Forderung
nach 12 Monaten Alltagserfahrung in der gefühlten Geschlechterrolle
vor Beginn einer Hormonbehandlung eingehend diskutiert. Den
MDS-Richtlinien werden die jüngsten Empfehlungen der WPATH in
sachlich überzeugender Weise gegenübergestellt.
In einer tabellarischen Übersicht werden am Ende dieses Kapitels
die Positionen zur Transsexualität am Ende des 20. Jahrhunderts (S.
38 ff.) mit den gegenwärtigen Auffassungen zur Diagnostik, zu
Aufgaben der Psychotherapie, zu Therapiezielen und zu rechtlichen
Rahmenbedingungen verglichen. Die Autoren verdeutlichen damit,
welche rechtlichen Rahmenbedingungen in den letzten Jahren
verbessert wurden und welche Veränderungen in Bezug auf die
Diagnostik sowie De-Psychopathologisierung der
Geschlechtsinkongruenz bereits stattgefunden haben oder sich im
Stadium der Entwicklung befinden.
Am Ende des Buches finden sich Übersetzungen eines Überblicks über
die medizinischen Risiken der Hormontherapie (S. 185 ff.), der
Zusammenfassung der Kriterien für Hormontherapie und Operationen
(S. 193 ff.) sowie der Evidenz-basierten Ergebnisse von
Therapieansätzen (S. 197 ff.). Insofern eignet sich dieses Buch
auch als kleines Nachschlagewerk in der alltäglichen Arbeit.
Der eigentliche Wert dieses Werkes liegt jedoch darin, dass neben
der Weiterentwicklung in der diagnostischen Konzeptualisierung
insbesondere der Paradigmenwechsel in den Behandlungsempfehlungen
von den Autoren in anschaulicher, sachlicher und kritischer Weise
dargestellt wurde. Es ist denjenigen unbedingt zu empfehlen, die in
der Praxis mit den Fragen der Indikation psychotherapeutischer und
somatomedizinischer Behandlungen befasst sind. Es ist zu hoffen,
dass sich auch die medizinischen Beraterinnen und Berater der
gesetzlichen und privaten Krankenversicherungen mit diesem Werk
auseinandersetzen, um die im Einzelfall gegebenenfalls vorhandenen
Entscheidungsspielräume bei Kostenübernahmeanträgen entsprechend
den international anerkannten und wissenschaftlich fundierten
Behandlungsempfehlungen der WPATH zu nutzen.