Rezension zu Der glückliche Augenblick

Journal für Psychologie Jg.13

Rezension von Barbara Kiesling

Der Zug ins Glück

In Deutschland wurde im vergangenen Jahr das allerschönste deutsche Wort gesucht. »Glück« nimmt bisher den dritten Platz ein – hinter »Liebe« und »Heimat«. Abgesehen einmal davon, dass die Beteiligten dabei Begriffe mit Worten verwechselten, ist es doch ein weiterer Beweis dafür, dass das Glück ganz oben auf der Wunschliste der Menschen steht. Unser Streben nach Glück ist trotz aller inzwischen erworbenen zivilisatorischen Wohltaten auch weiterhin ungebrochen. In den USA ist das »pursuit of happiness« gar verfassungsmäßig verbrieft.

In der Neuauflage seines Buches »Der glückliche Augenblick – Eine tiefenpsychologische Erkundung« zielt Dirk Blothner demnach auf das schönste der Gefühle, und spürt dessen psychologische Bedingungen nach. Seine empirische Studie hat in den vergangenen zehn Jahren nichts an seiner Aktualität verloren und leistet noch immer einen einzigartigen Beitrag zur aktuellen Glücksforschung. Sie ist auch deshalb ungewöhnlich, weil es schwierig ist, Emotionen überhaupt wissenschaftlich zu erforschen. Und wenn, dann stehen im Mittelpunkt des Interesses der Forscher doch eher die unangenehmen Gefühle. Diese finden jedoch bei Blothner allenfalls im separaten Teil »Zur Psychologie der Emotionen« stichwortartig Erwähnung.

Da jeder unter dem Begriff Glück etwas anderes versteht, setzt sieh der Autor zunächst mit den verschiedenen Zuweisungen auseinander und grenzt den Gegenstand seiner Untersuchung sowohl von Stadien der Zufriedenheit als auch von pathologischen Hochgefühlen ab. Bei dem glücklichen Augenblick, dem er sich zuwendet, handelt es sich demgegenüber um einen unmittelbaren, vorübergehenden Zustand von »Glückseligkeit«, von »Beglücktsein«.

Wir ahnen zwar, dass dieser Zustand weder durch äußere Reichtümer noch durch wünschenswerte Ereignisse herbeigeführt werden kann. Dennoch pochen wir unbeirrt auf unsere Glücksvorstellungen. Nach Meinung des Autors muss es dafür einen triftigen Grund gehen. Was ist es also, was unsere Sehnsucht nach dem Glück so beharrlich macht?

Blothner beschreibt zunächst die Bedingungen eines glücklichen Augenblicks und vermittelt so einen »strukturellen Einblick in sein Funktionieren« . Die äußeren Bedingungen einer Glückserfahrung sind demgemäß in der Regel völlig unspektakulär. Das Beglücktsein kann aus jeder nur erdenklichen Situation, selbst unter Folter, erwachsen. Die Glücksmomente tauchen unabhängig von Absichten und Erwartungen auf; sie fallen den Beglückten vielmehr regelrecht zu. Aufgrund seiner Beobachtungen, die sich auf eine breite Datenbasis stützen, ist Blothner ganz sicher, dass es in glücklichen Augenblicken »ums Ganze« geht.

Schließlich sei das Seelenleben von vornherein darauf aus, sich das Ganze anzueignen. Meistens bekommt es dieses jedoch jeweils nur in wechselnden Perspektiven bzw. in Ausschnitten. In den einsetzenden Glückmomenten vollzieht sich diesbezüglich eine Wandlung: alles wird plötzlich verstärkt als einheitlich, als ein »Ganzes« erfahren. Dieser »Zug ins Ganze« wird von außerordentlichen Erlebensqualitäten begleitet. Dem einen scheint es, als habe er einen »Einblick in die innere Ordnung der gesamten Wirklichkeit«, der andere erlebt ein Gefühl »ozeanischen Einswerdens«, ein anderer wiederum erfährt das »Aufgehobensein in der Welt« und die »besondere Verbundenheit mit dem Universum«.

Sämtliche Gefühlsqualitäten werden auf der Wahrnehmungsebene als ein Zustand der Harmonie erlebt. Allerdings zeigt die differenzierte Analyse Blothners, dass sich das seelische Geschehen in diesen herausgehobenen Momenten keineswegs als harmonisch erweist. Vielmehr befindet sich das Seelenleben dann in extremen Wandlungen, Drehungen, Zerdehnungen, Verrückungen und Dezentrierungen, durch die ein »verstärkter Übergang zum Ganzen« ermöglicht wird. Mit diesem »Übergang zum Ganzen« gehen weitere, auch entgegengesetzte Umschwünge einher, so dass Blothner von der »Drehfigur des Beglücktseins« spricht. Diese sehr dynamische Verwandlung wird vom Autor auch als »kleine Seelenrevolution« bezeichnet.

Blothner zieht jeweils anschauliche Beispiele für die einzelnen Wirkmechanismen heran, die in diesen Momenten greifen. So dasjenige von einem jungen Probanden, der an einem Samstagabend allein zu Hause in einem Zustand quälender Einsamkeit sitzt und schmerzvolle Sehnsucht nach einem Menschen hat. Als unerwartet eine frühere Freundin anruft, fokussiert sich seine ganze Sehnsucht auf diese Frau. Noch während des Gesprächs löst sich seine zuvor verspürte Verlassenheit vollständig auf. Nach Beendigung des Telefonats fühlt er sich glücklich wie lange nicht mehr.

In den von Blothner beschriebenen Augenblicken scheint es den Menschen zu gelingen, sämtliche Probleme und Schwierigkeiten hinter sich zu lassen. Es gibt plötzlich keine Antagonisten mehr, sondern alle und alles haben in einem friedlichen Nebeneinander seinen Platz im Ganzen. Ein sicherer und beständiger Platz scheint gefunden zu sein. Die gewohnten Begrenzungen lösen sieh auf und ein »Aufblitzen von Allmacht stellt sich ein.

Psychoanalytisch interpretiert lässt sich der »Zug ins Ganze« mit Erlebensqualitäten sehr früher Phasen in Zusammenhang bringen. Im Getragen- und Gehaltenwerden durch die Mutter erlebt das Kleinkind einen Zustand »ungebrochener Verfügbarkeit«. Analog dazu fühlen sich die Menschen im glücklichen Augenblick Von einem haltenden Ganzen gleichsam von der »kosmischen Mutter« (Liedloff 1984) – getragen. Und so dringt der Autor in Tiefendimensionen und weckt in uns Erinnerungen an Momente, in denen wir tatsächlich »die ganze Wirklichkeit als ein großes Werk erfahren« haben.

Blothner versteht sich außerordentlich auf Tiefenwirkungen. Das ist bereits durch seine zwei fachkundigen – ebenso berührenden – Filmbücher bekannt. Nur wenige Wissenschaftler verstehen es, ihre Erkenntnisse in so bewegender Weise darzulegen. Blothner kehrt aber auch wieder zurück in die »irdische Wirklichkeit«, wenn er betont, dass das Seelenleben nicht lange in diesem Zustand grenzenloser Bewusstheit verweilen kann. Daher rühre auch die Unmöglichkeit, dauerhaft jenes Glück zu empfinden.

So ist der glückliche Augenblick von seiner Natur her nur ein episodisches Phänomen. Wir ahnen auch das, doch akzeptieren wir es in der Regel nicht! Vielleicht, weil der (post)moderne Mensch etwas braucht, das er dem Gefühl der Ungeborgenheit entgegensetzen kann?

Insofern ist die Lektüre von Blothners »Glücksbuch« außerordentlich lohnend: alles dreht sich allein um den glücklichen Augenblick und lenkt uns so in beglückende Dimensionen.

Literatur

Blothner, Dirk (1999): Erlebniswelt Kino – Über die unbewusste Wirkung des Films. Bergisch-Gladbach: Bastei.
Blothner, Dirk (2003): Das geheime Drehbuch des Lebens – Kino als Spiegel der menschlichen Seele. Bergisch-Gladbach: Bastei (2. Auflage).
Der Tagespiegel: Der Tag an dem ... wir zum Glück nein sagen. 22.6.04.
Liedloff, Jean (1980): Auf der Suche nach dem verlorenen Glück. München: Beck.


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