Rezension zu Alchemie

Inklings – Jahrbuch für Literatur und Ästhetik Band 33, 2015

Rezension von Elmar Schenkel

Unsere Welt ist von einer Pseudowissenschaft geprägt, der Alchemie. Eigentlich gibt es sie seit der Neuzeit nicht mehr, jedenfalls schlossen die letzten Labore während der Französischen Revolution. Doch wir bleiben alchemistisch gesonnen, weil wir auf Unsterblichkeit hoffen (zumindest für uns als Spezies), auf technische Reproduktion des Lebens setzen und immer noch hinter einer Formel herjagen, die alles in der Welt erklären soll. Das sind typische alchemistische Motive. Auch sprachlich verfolgt sie uns, wenn wir von Quacksalbern sprechen oder Influenza – Quacksalber waren Heiler, die mit Quecksilber operierten, dem Lieblingsstoff der Alchemisten, und Influenza bezeichnet den negativen Einfluss von den Sternen. Neben diesen unbewussten Restbeständen und unserem Wunsch, alles zu Gold oder Geld zu machen, gab es eine ganz andere Wiedergeburt der Alchemie im 20. Jahrhundert. Die Goldmacherei war längst verschrien als Scharlatanerie, da entdeckten Psychologen – allen voran Carl Gustav Jung –, dass die phantasievollen alchemistischen Werke nicht einfach Geheimnistuerei darstellten, sondern Prozesse an Metallen und Stoffen beschrieben, die noch viel genauer auf die menschliche Psyche passten. Jungs Alchemie und Psychologie wurde zu einem Standardwerk, das auch Künstlern und Dichtern den Weg zur alten Kunst der Verwandlung wies. Ted Hughes etwa, der englische Lyriker, war stark von Jungs Einsichten beeinflusst. Jung sah in der Alchemie eine Projektion psychischer Tatsachen auf die Materie. Die materielle Veredelung war für ihn in der sogenannten Individuation des Menschen, seiner inneren Reifung, fassbar geworden.

Der dänische Tiefenpsychologe Johannes Fabricius hat Jungs Anregungen aufgegriffen und in seinem monumentalen, reich illustrierten Werk JungsThesen nachgeprüft und vertieft. Er geht dabei die einzelnen Phasen des alchemistischen Opus durch – von der prima materia, dem Urzustand, über die schwarze und die weiße Stufe, den gelben Tod zur roten Verwesung bis hin zur Geburt des Großen Steins. All dies muss psychologisch übersetzt werden, in Formen des Traumas und der Wiedergeburt. Es folgen Anwendungen des psychologischen Verständnisses von Alchemie. So findet er noch in der Drogenforschung, der Psychedelik oder »Neuen Alchemie« ähnliche Musterwieder: Timothy Leary oder Stanislav Grof haben bewusst mit Drogen gearbeitet, um Menschen in ihr tiefstes Unbewusstes zu führen und die Welt von ihren embryonalen Ursprüngen her wieder aufzubauen. Fabricius glaubt gar mit diesen Forschern, dass man mit Hilfe von LSD in die evolutionäre Stammesgeschichte der Menschheit zurücktauchen kann. Hier, denke ich, unterschätzt er die Gefahren, die sich auf einem solch abschüssigen Weg in die Psyche ergeben. Alchemie als Individuation findet er auch in den Werken von Goethe, Wagner und T.S. Eliot, denen er jeweils ein Kapitel widmet. Eliots Werk geht er im Einzelnen durch und ordnet Gedichte bestimmten Phasen des alchemistischen Prozesses zu. So steht »The Waste Land« für irdische Wiedergeburt oder »East Coker« für den »roten Tod« Rubedo oder die Verwesung. Mehrere Dramen ordnet er dem Todestrauma zu. Das ist alles sehr anregend, wenn auch nicht immer nachvollziehbar. Fabricius stellt die Alchemie jedoch wieder in die Mitte unserer gegenwärtigen Bedürfnisse und Imaginationen. Alchemistisches Denken bleibt Antriebskraft noch in den rationalsten Unternehmungen. Je bewusster wir uns dessen sind, desto mehr wissen wir über unsere eigentlichen Interessen, desto wirkungsvoller kann auch Kunst sein.

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