Rezension zu Aufgewachsen in »eiserner Zeit«

Vierteljahreszeitschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, 103, 1/2016

Rezension von Markus Raasch

Barbara Stambolis sensibilisiert für markante Blindstellen der Weltkriegsforschung: Zum einen sind kindliche Lebenswelten vornehmlich im Kontext des Zweiten Weltkrieges ins Blickfeld genommen worden. Die »Kriegskinder« der Jahre 1914-1918 bleiben trotz wichtiger Arbeiten, z.B. von Stéphane Audoin-Rouzeau, Eberhard Demm, Christa Hämmerle und Rosie Kennedy, immer noch unterbelichtet. Zum anderen hat die Forschung erfahrungsgeschichtliche Langzeitperspektiven und transgenerationelle Prägungen noch zu wenig berücksichtigt. Der signifikante Umstand, dass die Kriegskinder des Zweiten Weltkrieges für gewöhnlich Kinder von Kriegskindern des Ersten Weltkrieges waren, blieb Beobachtung, die aus ihm eventuell resultierenden psychohistorischen Erbschaften bilden ein Desiderat.

Hier setzt die Paderborner Historikerin an. Mit Hilfe breit gefächerten Quellenmaterials, das von literarischen, philosophischen und (populär-)wissenschaftlichen Werken über Tagebücher, Briefe und Erinnerungen sowie Postkarten, Plakate und Fotos bis hin zu Zeitzeugengesprächen reicht, fokussiert Stambolis die Kontinuitäten und Brüche von Weltkriegskindheiten: Sie umreißt die Janusköpfigkeit des beginnenden 20. Jh.s zwischen forcierter Hinwendung zum Kind (entstehende Säuglingspflege, Kinderforschung etc.) und kumulierenden Zukunftssorgen angesichts frappierender Kinderarmut, deutlichem Geburtenrückgang und der weit verbreiteten Perzeption eines »eisernen Zeitalters«. Sodann konturiert sie mit Begeisterung und rascher Desillusionierung sowie Mangelernährung, Verlustschmerz und Entprivatisierung von Mutterschaft kindliche Erfahrungen des Ersten Weltkriegs. Die gravierenden Folgen des Krieges sucht sie für die 1920er Jahre an der Notwendigkeit groß angelegter privater Hilfsleistungen aus dem In- und Ausland sowie den fachmedizinischen und populären Diskursen über »nervöse Störungen« deutlich zu machen. Sie beschreibt die unzulängliche Sozialfürsorge, zumal von Kriegerwitwen und -waisen, und skizziert eine zusehends entdifferenzierte Kriegsgedenkkultur, die persönliche Trauer nahezu unmöglich machte. Das omnipräsente Gefühl der Perspektivlosigkeit, wesentlich befördert durch die horrend hohe Jugendarbeitslosigkeit, ebnete sodann den Weg in den Nationalsozialismus, in dem das Erziehungsprinzip der »eisernen Zucht« verabsolutiert wurde. Die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg wird kursorisch behandelt: In Relation zu den 1920er Jahren exponiert Stambolis phänomenologische Gemeinsamkeiten wie die desolaten Familienverhältnisse. Sie benennt transgenerationelle Verhaltensweisen, etwa den defensiven Umgang mit Gefühlen, und sie verweist auf die Unterschiede der kindlichen Prägungen: Die Bundesrepublik bot schlechterdings andere sozioökonomische Perspektiven, freilich war im Gegensatz zur »Weimarer Republik« das Schicksal der Kriegskinder nur peripher ein Thema des politischen, medialen und nicht zuletzt auch wissenschaftlichen Diskurses.

Die Stärke des Buches besteht vor allem in dem Mut, sich auf ein weitgehend brachliegendes Feld zu begeben und ein bis heute fortwirkendes Thema in der longue durée quellenbasiert zu bearbeiten. Überdies sorgen inhaltliche Prägnanz, ein flüssiger Schreibstil und zahlreiche Abbildungen für eine kurzweilige Lektüre. Die Schwächen sind offenkundig: Etliche Aspekte werden nur gestreift, an manchen Stellen hätte es der Vertiefung und Differenzierung bedurft. Einige einschlägige Arbeiten mit teilweise komplexeren Befunden, etwa in Sachen Wandel von Männlichkeitsidealen, wilhelminisches Schulsystem oder Jugendkriminalität, werden nicht rezipiert. Mitunter wäre eine Fundierung der Argumentation durch Zahlen hilfreich gewesen: Wie hoch war z. B. die Witwen- bzw. Waisenrente im historischen Wandel? Wie steht Deutschland im internationalen Vergleich da? Inwiefern waren die deutschen Arbeitslosenzahlen, inwiefern die ausländischen Hilfsleistungen für deutsche Kinder etwas Besonderes? Zudem erfordert eine Studie mit einem derart ambitionierten Erkenntnisinteresse wesentlich ausführlichere methodologische Überlegungen; zumindest die Systematik des Quellenzugriffs müsste transparent gemacht werden. Die psychohistorischen Erbschaften bleiben letztlich vage. Allerdings: Barbara Stambolis macht in ihrem Buch immer wieder deutlich, dass sie sich seines Pioniercharakters und der damit verbundenen Unzulänglichkeiten bewusst ist. Gerade deshalb hat sie eine wichtige Studie vorgelegt, die hoffentlich die Forschung befördern wird.

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