Rezension zu Frühe Kindheit unter Optimierungsdruck
HEP Informationen. Zeitschrift des Bundesverband Heilerziehungspflege in Deutschland e. V., Heft 4/2015
Rezension von Dr. Ulf-Henning Janssen
Natürlich wollen alle Eltern nur das Beste für ihre Kinder. Glück
sollen sie einmal finden, vor allem aber Erfolg haben in einer
Welt, die diesen Begriff bekanntlich über alles setzt. Vor dem
Erfolg stehen aber Bildung und Förderung, die somit gar nicht früh
genug beginnen kann. Vermutlich halten sich deshalb bestimmte
Mythen so hartnäckig:
Nur wer den besten Start hat, kann gewinnen. Und so sehen denn die
Konzepte regelmäßig auch aus. Beschallung mit klassischer Musik
schon im Mutterleib, Fremdsprachenunterricht in einer, besser zwei
Sprachen schon im Kindergartenalter und natürlich Sport, Musik und
Ballett schon für die Jüngsten. Dazu eine Schulwahl, die
Überforderung nahezu garantiert. Optimierungs- und
Ökonomisierungsdruck gegenüber den Kindern stehen letztlich hinter
diesen Bildungskonzepten, die von ihren Verfechtern massiv
verteidigt werden. Das Ziel ist nicht weniger als eine
marktgerechte Konditionierung in der frühen Kindheit mit der
Vorstellung, hierdurch Topmanager, Spitzenwissenschaftler,
Leistungssportler oder Staatslenker herausbilden zu können. Aber
stimmen diese Konzepte auch? Gelingt es tatsächlich, über derartige
Fördermaßnahmen eine glückliche Elite zu formen? Nein, sagen die
Autoren des vorliegenden Bandes in aller Deutlichkeit.
Auf Basis neuester Forschungsergebnisse warnen Expertinnen und
Experten aus Psychoanalyse, Säuglingsforschung und
Neurowissenschaften vielmehr vor Leistungsdruck, Förderwahn und der
damit einhergehenden Stressbelastung. Sie plädieren für mehr
Gelassenheit und betonen die uneingeschränkte Bedeutung emotional
verlässlicher Beziehungen und Bindung. Natürlich, so betonen alle
Autoren, sind es die hochsensiblen ersten Lebensjahre, in denen die
entscheidenden Grundsteine für die zukünftige Entwicklung gelegt
werden.
Diese aber müssen im zwischenmenschlichen Kompetenzbereich angelegt
werden, weshalb die Herausbildung basaler psychosozialer
Kompetenzen, die ein friedliches Zusammenleben überhaupt erst
ermöglichen, Kernelement elementarer pädagogischer Bemühungen
stehen muss. Dies gilt umso mehr, als die weltweite Verflechtung
von Bereichen wie Wirtschaft, Politik und Kultur zu Recht
Verunsicherung erzeugt und deshalb ganz besonders die Fähigkeit zur
feinfühligen und respektvollen Wahrnehmung und Kommunikation mit
anderen fordert. Dies alles mag sich zunächst sehr theoretisch
anhören. Es hat aber ganz praktische Auswirkungen auf das
Miteinander in der Eltern-Kind-Beziehung, die auch aus Elternsicht
ebenso interessant wie problematisch sind. Nicht selten sind diese
Förderbemühungen der Eltern ja weniger äußeren Einflüsterungen als
vielmehr eigenen (Versagungs-) Erfahrungen geschuldet.
Und hier setzt auch der praktische Mehrwert dieses Buches an.
Anschauliche Fallschilderungen verdeutlichen diese Interaktions-
und Übertragungsproblematik. Gleichzeitig werden mögliche
Lösungswege aufgezeigt, natürlich auch Ansätze entwickelt, wie eine
Förderung elterlicher Kompetenzen im Einzel- wie im Gruppensetting
möglich erscheint. Nicht zuletzt runden Forderungen an die
Entscheidungsträger hinsichtlich der Weiterentwicklung geeigneter
Hilfeformen für Kinder und ihre Eltern den Band ab. »Und nie mehr
Zeit für Bullerbü?«, so lautete der Untertitel der 18. Jahrestagung
der Gesellschaft für seelische Gesundheit in der frühen
Kindheit.
Dieses Buch gibt wichtige Hinweise und Anregungen ausgewiesener
Experten fernab landläufiger Erziehungsratgeber; es macht Mut, dass
die Kinder wieder Zeit haben – auch und gerade für Bullerbü. Schwer
vorstellbar, dass das den Eltern nicht genauso gefallen wird!