Rezension zu Neue Mütter - neue Väter
SLR – Sozialwissenschaftliche Literatur Rundschau. Zeitschrift für Sozialarbeit, Sozialpädagogik, Sozialpolitik und Gesellschaftspolitik 2/2015
Rezension von Margit Brückner
Diese neue, sehr gründliche, gut recherchierte und interessant zu
lesende Studie knüpft an Karin Flaakes jahrzehntelanges
Forschungsinteresse bezogen auf Familien und
Geschlechterverhältnisse an. Hat Flaake doch vor gut 10 Jahren eine
Studie vorgelegt, die sich mit traditionellen
Geschlechterverhältnissen in Familien und deren Auswirkungen auf
die nächste Generation, insbesondere junge Frauen
auseinandergesetzt hat (Flaake, Karin (2001): Körper, Sexualität
und Geschlecht. Studien zur Adoleszenz junger Frauen. Gießen:
Psychosozial-Verlag). In der hier vorgelegten Studie stehen neue
Muster des Zusammenlebens in Familien auf der Basis
nichttraditioneller Arbeitsteilungen sowie deren Wirkungen auf die
Geschlechterbeziehungen zwischen den Generationen, zwischen
Müttern und Vätern sowie deren Töchtern und Söhnen im Vordergrund.
Dieser neuen Studie ist die gleiche Fachaufmerksamkeit zu wünschen
wie der alten, denn sie zeigt in empirisch abgesicherter Form
Möglichkeiten aber auch Grenzen von Veränderungen der
Geschlechterarrangements auf. Sie weist nach, dass alle Beteiligten
- Mütter und Väter, Töchter und Söhne - trotz der mit diesen
Veränderungen verbundenen Mühen die Überwindung von Geschlechtern
zugeschriebenen Lebensformen und Identitätsmustern als bereichernd
erleben: Frauen und Männer eignen sich beide Lebensbereiche – die
Erwerbsarbeit und die Familienarbeit – an und erfahren dadurch neue
Formen der Wirksamkeit und des Gefühlserlebens. Beide Studien
beziehen sich auf westdeutsche Verhältnisse mit ihren starken
Orientierungen an männlich konnotierter Erwerbstätigkeit und
weiblich konnotierter Hausarbeit.
Die neue Studie basiert auf Leitfadeninterviews mit 12 Familien
(Müttern und Vätern sowie Söhnen und Töchtern zwischen 13 – 27
Jahren), die getrennt voneinander befragt wurden und anschliessend
psychoanalytisch orientiert hinsichtlich manifester und latenter
Gehalte interpretiert wurden. Auswahlkriterium war die intensive
Beteiligung der Väter an der Familienarbeit (Kinderbetreuung und
Hausarbeit) entweder nach dem Muster der reduzierten Erwerbsarbeit
beider Eltern (9 Familien) oder nach dem Muster der Rollenumkehr
traditioneller Verhältnisse, d.h. der Vollzeiterwerbstätigkeit der
Mütter und der Familienarbeit der Väter (3 Familien). Der sich
durchziehende Vergleich beider Muster zeigt, dass das erstere für
die Familien weniger von Problemen und Ambivalenzen durchzogen ist
als das letztere, wobei in beiden Mustern die jeweilige
Zufriedenheit der Mütter und Väter höchst wirksam ist, auch
bezogen darauf, ob die Töchter und Söhne das jeweils erlebte
Familienmodell für sich selbst später gar nicht oder voller
Überzeugung oder nur mit Abstrichen übernehmen wollen oder nicht.
Der jeweilige Grad der Zufriedenheit ist dabei relativ unabhängig
vom Umfang der erreichten Neuorientierung und dem Ausmaß
eingegangener Kompromisse. Zwar wollten alle Familien ein
nichttraditionelles Muster leben und stehen auch weiterhin dazu –
aufgrund der schon genannten Bereicherung –, aber eine große Rolle
spielen auch die erfahrenen Probleme sowohl auf der objektiven
Ebene (Hemmnisse institutioneller Strukturen) als auch auf der
subjektiven Ebene (Verhaftet-sein in traditionellen Orientierungen
als .gute. Mutter bzw. Ängste, die eigene Männlichkeit. nach innen
und außen zu riskieren), die einen solchen Lebensentwurf zumindest
zeitweise anstrengend machen und immer wieder eine zu meisternde
Herausforderung darstellen.
Das Buch ist in vier Teile gegliedert, in denen jeweils
charakteristische Ereigniskonstellationen ausführlich am Beispiel
einzelner Familien – ergänzt um kurze Passagen zu ähnlichen und
davon unterschiedenen Familien – anhand von interpretierten
Interviewpassagen vorgestellt werden. Diese verleihen den Analysen
eine gute Nachvollziehbarkeit und LeserInnen freundliche
Lebendigkeit. Alle Themen werden aufgegliedert nach den beiden
Familienmustern und nach dem Grad der Konflikthaftigkeit innerhalb
des Musters vorgestellt, wodurch die Bedeutung der Zufriedenheit
mit den gefundenen Kompromissen und der Kompromissfähigkeit
herausgearbeitet wird. Hilfreich sind auch die thematisch
gegliederten Zwischenresümees sowie das Endresümee jeden Teils,
die es angesichts der Fülle der Daten und der detailliert
vorgestellten Lebenssituationen den LeserInnen erleichtern, den
Überblick zu behalten und sich die systematische Relevanz der
familialen Ereignisse und Entwicklungen bewusst zu machen.
Im ersten Teil geht es um die Art der geteilten Elternschaft und
der Dynamik in Paarbeziehungen anhand von Interviews mit den
Müttern und Vätern hinsichtlich vorgeburtlicher Vorstellungen,
Erfahrungen rund um die Geburt einschließlich des Stillens,
Entwicklungen in den ersten Lebensjahren des Kindes und zweier
systematischer Themen, nämlich der Bedeutung von Mutterbildern und
des Umgangs mit Hausarbeit. Der zweite Teil beschäftigt sich mit
der sozialisatorischen Wirkung der geteilten Elternschaft und der
Verflüssigung von Geschlechterbildern in Bezug auf die Söhne und
Töchter.
Großen Raum nimmt die Analyse spezifischer Entwicklungsprozesse von
Töchtern und Söhnen auf der Folie unterschiedlicher
Beziehungsmuster zwischen Eltern und Kindern ein. Dabei werden
sowohl Problembereiche angesichts traditioneller Verhaftungen der
Eltern aufgezeigt als auch durch die geteilte Elternschaft
ermöglichte Erweiterungen geschlechtsspezifischer Zuordnungen sowie
neue Formen emotionalen Erlebens von Eltern und Kindern. Es folgen
zwei kürzere Teile, ein dritter Teil, in dem die rückblickende
Auseinandersetzung der Eltern mit dem eigenen Lebensentwurf der
geteilten Elternschaft einen Schwerpunkt darstellt und anschließend
die Auseinandersetzung der heranwachsenden Kinder mit diesem als
Kinder erlebten Entwurf einschließlich dessen Bedeutung für die
eigene Zukunftsgestaltung. Der vierte Teil zieht ein Gesamtresümee
hinsichtlich der Bedeutung geteilter Elternschaft für eine
Veränderung der Geschlechterbeziehungen. Als eine unabdingbare
Voraussetzung erweist sich die Notwendigkeit einer hinreichenden
gesellschaftlichen Rahmung für derartige Prozesse der Erweiterung
von Lebensmöglichkeiten für Frauen und für Männer. Sehr
differenziert arbeitet Flaake die Möglichkeiten der Neugestaltung
ebenso heraus wie die Kraft traditioneller Muster und Identitäten
und das Erfordernis einer Relativierung insbesondere traditioneller
Mutterbilder. Denn nur dann können sich Frauen hinreichend aus
familialen Orientierungen lösen und andere gesellschaftliche Räume
emotional besetzen und nur dann entsteht Raum für eine Teilhabe
von Männern am Familiengeschehen, die ihnen die Möglichkeit
schafft, eine emotionale Bindung an ihre Kinder auf der Basis
alltäglichen Zusammenseins und der Vertrautheit herzustellen und zu
genießen.
Im Folgenden will ich einige der weiteren mir zentral erscheinenden
Erkenntnisse der Studie skizzieren. Am Beispiel des Geburtserlebens
und frühkindlicher Entwicklungen wird deutlich, welche Relevanz
den jeweiligen Rahmungen zukommt, zu der sowohl objektive Faktoren
wie Erwerbsarbeitsarrangements des Paares als auch subjektive
Faktoren – von der Klarheit getroffener Absprachen (z. B. der
Aufgabenverteilung) bis zum subjektiven Umgang mit Ereignissen wie
dem Stillen – gehören. So kann das Stillen von Frau und Mann als
exklusiver Vorgang zwischen Mutter und Säugling erlebt werden, aber
auch als Moment, in den der Vater explizit einbezogen wird, indem
beide Eltern das Stillen durch die Mutter als verbindendes,
gemeinsam erlebtes und berührendes Geschehen verstehen. Der Vater
kann sich einbeziehen lassen oder seine Ambivalenz gegenüber der
Mutter-Kind-Einheit kann sehr ausgeprägt und sein Gefühl
gegenüber dem Säugling überwiegend von Distanzierung angesichts
der Hilflosigkeit des Neugeboren geprägt sein. Je nach objektiver
und subjektiver Gemengelage einer Vielzahl solcher Faktoren kann
das Vorhaben der geteilten Elternschaft mehr oder weniger zur
beidseitigen Zufriedenheit gelingen bzw. das Gelingen immer wieder
durch Kompromissbildung hergestellt werden oder es kommt zu –
phasenweisen oder durchgängigen – Einbrüchen in Richtung
Traditionalisierung, welche ihrerseits vom Paar umkämpft oder
akzeptiert werden kann. Ein zentrales Element in diesem Geschehen
bezieht sich darauf, inwieweit das Paar gegenseitig individuelles
Sosein und individuelle Umgangsweisen mit familialen Themen und
Aufgaben an einander akzeptiert. Deutlich wird in den Interviews,
wie sehr – entgegen der Vorstellungen von sich selbst und der
getroffenen Vereinbarungen – vor allem ein Rollentausch die eigene
Geschlechtsidentität bedrohen kann, so dass vollerwerbstätige
Mütter sich dann besonders z. B. im Haushalt engagieren oder
besonders stark die Erziehungsweise allein regulieren wollen und
familienarbeitende Väter vor allem die Hausarbeit – nicht so die
Kindererziehung – negativ als abzulehnende weibliche Tätigkeit
besetzen. Daher ist die Aufgabenteilung in den selteneren Fällen
tatsächlich ausgewogen. Vielmehr engagieren sich Frauen häufig
stärker in der Familie, was die Paare aber auch die heranwachsenden
Kinder unterschiedlich erleben. Psychisch scheint eine
Aufgabenteilung in beiden Bereichen oft einfacher verkraftbar als
eine Rollenumkehr. Nachdenklich stimmt auch, dass in vielen
Familien – auch bei Vollerwerbstätigkeit – im Selbstverständnis
aller Familienmitglieder die Mutter für emotionale Nähe zum Kind
als Hauptzuständige gesehen wird, während der Vater eher für
Aktivitäten bis hin zu Abenteuern steht, auch in den Augen der
heranwachsenden Jungen und Mädchen. Dennoch beschreiben alle
heranwachsenden Kinder eine große Nähe zum Vater und dass ihnen
seine häusliche Anwesenheit wichtig ist. Diese Nähe zum Vater
erhält für viele der heranwachsenden Töchter ihre Wichtigkeit
besonders über ein ihnen dadurch ermöglichtes Selbstvertrauen in
ihr eigenes Können und einen selbstbewussten Umgang mit Männern,
während für die heranwachsenden Söhne der alltägliche Kontakt und
die tragende Beziehung zu ihm hervorgehoben wird, die sie als etwas
Besonderes erleben. Einen großen Vorteil in der geteilten
Elternschaft sehen die Heranwachsenden zudem im engen Kontakt mit
zwei unterschiedlichen Erwachsenen, mit denen sie verschiedene
Formen von Beziehungen leben können und die ihnen gegenüber eine
einander ausgleichende Wirkung entfalten. Bedeutsam für das
Gelingen dieses Ausgleichens und des Empfindens zweier enger
Bezugspersonen als Bereicherung, ist die wechselseitige
Wertschätzung und Anerkennung des Elternpaares untereinander.
Inwiefern sich die Eltern tatsächlich unterschiedlich gegenüber
ihren Söhnen und Töchtern verhalten haben und inwiefern die Töchter
und Söhne ihre Eltern tatsächlich als Kind unterschiedlich erlebt
haben, muss laut Flaake möglicherweise auf der Folie von
Vereindeutigungstendenzen entlang normativer Geschlechterrollen
verstanden werden, die der Stabilisierung angesichts
verunsichernder Geschlechtsrollenerweiterungen dienen können.
Der große Vorteil geteilter Elternschaft besteht allen Widrigkeiten
zum Trotz in der Chance, dass Kinder eine zu beiden Elternteilen
gleichermaßen emotional bedeutsame Beziehung. (S. 207) aufbauen,
die Eltern sich gegenseitig stützen und entlasten und beide
Elternteile Anteil sowohl an der Arbeits- als auch der
Familiensphäre nehmen können. Alle Familienmitglieder haben in
dieser neuen Familienform die Chance zum Aufbruch aus
Rollenbeschränkungen, aber der Weg führt durch äußere und innere
Hemmnisse, die immer wieder zu überwinden respektive zu bearbeiten
sind. Darin liegt auch eine mehr oder minder starke
Verführungskraft traditioneller Familienformen von der einige der
Familien berichten.
Eine sehr lesenswerte Studie, die jeden Leser und jede Leserin zum
Nachdenken über die eigenen Familienerfahrungen und -vorstellungen
bringt und anregend wirkt, sich für eine gute gesellschaftliche
Rahmung für geteilte Elternschaft wissenschaftlich und praktisch
einzusetzen.