Rezension zu Dieses unglaubliche Bedürfnis zu glauben

Psychologie Heute Dezember 2015

Rezension von Michael Utsch

Existenzielle Illusionen

Julia Kristeva analysiert das Bedürfnis zu glauben

Sigmund Freud hätte der Pariser Literaturhistorikerin und Psychoanalytikerin vehement widersprochen. Während Freud das »unglaubliche Bedürfnis zu glauben« als illusionären Wunsch entlarven und durch die wissenschaftliche Vernunft überwinden wollte, arbeitet Kristeva die Notwendigkeit von Illusionen heraus. Verstanden als Fantasien, seien sie für das Seelenleben existenziell notwendig und eröffneten Übergangsräume des Ausprobierens und der psychischen Entwicklung.

Anders als Freud sieht Kristeva in einem religiösen Glauben keine lebensfeindlichen Dogmen, und damit liegen für sie die Ursachen für Neurosen auch nicht im Glauben. Das Glaubensverlangen sei eine anthropologische Konstante, die vor jeglicher religiöser Ausgestaltung im Menschen angelegt sei. Dieses Grundbedürfnis beginne beim Kleinkind mit der Erwartung eines liebenden Dritten, der die faszinierend-grauenvolle Mutter-Kind-Abhängigkeit erweitere und verwandle. Es lasse sich beim Sprechen durch die Erwartung des Zuhörens und Antwortens nachweisen: »Weil ich glaube, spreche ich; glaubte ich nicht, würde ich nicht sprechen.« Auch in der Sinn- und Selbstsuche der Jugendlichen sei das Glaubensverlangen zu finden – Kristeva beschreibt sie als gläubige Zweifler.

In Gesprächen und Essays untersucht die Autorin dieses Bedürfnis anhand von Texten des heiligen Paulus, von Aristoteles, Immanuel Kant, Friedrich Nietzsche, Hannah Arendt, Jürgen Habermas und Joseph Ratzinger. Ihre verständlichen Analysen behandeln Themen wie die Vater- und Mutterfunktion, die Macht der Autorität und den Feminismus. Kristeva, die aus philosophischen Gründen nicht gläubig ist, würdigt die christliche Anthropologie als eine Wegbereiterin des Humanismus. Dabei macht sie zwei Gemeinsamkeiten der Psychoanalyse mit dem Christentum aus: eine »Anerkennung des Leidens als integraler Bestandteil des sprechenden Wesens« und die Zähmung des Leidens durch die »Geste der Darstellung«. Leiden kann in Kristevas Lesart in Kreativität, in Sublimierung und in Lebenskunst umgewandelt werden. Literatur und Psychoanalyse werden sogar zu wahren Erben des Christentums hochstilisiert. Auch wenn die Autorin an dieser Stelle mit ihren Folgerungen weit über das Ziel hinausschießt, weil sie aufgrund fehlenden theologischen Wissens die gravierenden Weltbildunterschiede übergeht: Solche Gedanken aus psychoanalytischer Feder erstaunen!

Das Buch ist ein weiterer Beleg für ein neues psychoanalytisches Verständnis von Spiritualität, das dem Glauben wichtige seelische Funktionen zuweist. Kristeva findet überraschende Übereinstimmungen zwischen modernem psychoanalytischem Denken und der christlichen Erzählung von Leiden, Opfer und Vergebung. Aus säkularer Perspektive werden die Vorzüge von gläubigem Hoffen und Vertrauen für die Psychodynamik aufgezeigt. Zu glauben ist nicht unmodern, sondern ein urmenschliches Bedürfnis, dem wir nachgeben und das wir gestalten können.

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