Rezension zu Unbewusste Erbschaften des Nationalsozialismus
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Rezension von Prof. Dr. Gertrud Hardtmann
Herausgeber und Herausgeberin
Jan Lohl ist Sozialwissenschaftler, Coach und wissenschaftlicher
Mitarbeiter am Sigmund-Freud-Institut in Frankfurt/M.
Angela Moré, Dr. phil. habil., ist Sozialpsychologin,
Gruppenanalytikerin und außerplanmäßige Professorin an der Leibniz
Universität Hannover, sowie Mitbegründerin des gruppenanalytischen
Instituts GIGOS.
Aufbau und Inhalt
Die psychologischen Spuren, Leerstellen und Gegenidentifikationen,
die die Verbrechen der Nationalsozialisten in den nachfolgenden
Generationen der Kinder und Enkel der Täter hinterlassen haben,
werden aus unterschiedlicher Perspektive von den Mitarbeitern
dieses Buches untersucht.
Heike Radeck, Dr. theol. und Pfarrerin, von 2005-2012
stellvertretende Direktorin der evangelischen Akademie Hofgeismar
berichtet von einer Tagungsreihe der Akademie unter besonderer
Berücksichtigung der Folgen der »emotionalen Panzerung« der Täter
auf die nachfolgende Generation (9 S.).
Der Historiker Hannes Heer, Mitarbeiter des Hamburger Instituts für
Sozialforschung, referiert den »Historikerstreit«, die
»Jenninger-Rede« und Diskussionen anlässlich der ersten Version der
Wehrmachtsausstellung unter dem Titel »Deutsche Geschichtsdebatten
im Generationengespräch« (120 S.).
Wolfgang Benz, Historiker und ehemaliger Leiter des Instituts für
Antisemitismusforschung an der TU Berlin, und der
Sozialwissenschaftler Jan Lohl stellen einen aktuellen Bezug zum
»Antisemitismus und Rechtsextremismus in der Bundesrepublik« her
(20 S.).
Die Psychoanalytiker Kurt Grünberg und Friedrich Markert, Leiter
des Forschungsprojekts »Szenisches Erinnern der Shoah« am
Sigmund-Freud-Institut in Frankfurt/M., inszenierten dialogisch und
gruppendynamisch das Erinnern anhand der Briefe des Eugen Behr:
»Vor, aus und nach Auschwitz« und beobachteten Generationen
übergreifende verinnerlichte Tabus und Überlieferungen von
verfälschenden Geschichtsbildern (10 S.).
Angela Moré untersucht die Auswirkungen von in »Erziehungsbüchern«
empfohlener und praktizierter Gefühlskälte, und die Verleugnung
dieser Erbschaft bei den Nachkommen der Täter (15 S.).
Die Psychotherapeutin Ruth Waldeck setzt sich autobiographisch mit
den Schatten/Folgen der Parentifizierung der nachfolgenden
Generation auseinander, veranlasst durch die abwesenden oder
traumatisierten Väter (23 S.).
Mit den Folgen des Nationalsozialismus und deren Überwindung,
befasst sich die Psychoanalytikerin Elke Horn in ›Von der Abwehr
durch Spaltung zum Dialog‹ (21 S.) und mit der Möglichkeit, in der
Therapie die Hinterlassenschaften aufzuarbeiten, die
Psychotherapeutin Ute Althaus (14 S.).
Der Beitrag der Psychologin Katharina Rothe und des
Sozialpsychologen Oliver Decker beschließt den facettenreichen
Blick auf die »Erbschaften des Nationalsozialismus« anhand von
Interviews, fokussiert auf die »Gefühlserbschaften«und die
»Geschlechterrollen« (23 S.).
Diskussion
Die Herausgeber, Jan Lohl und Angela Moré , haben versucht ein
breites Spektrum von Perspektiven – sowohl empirische soziologische
und historische Untersuchungen, als auch aus der
gruppenanalytischen und therapeutischen Praxis gewonnene
Beobachtungen – nicht nur der wissenschaftlichen Fachwelt, sondern
auch dem am Thema interessierten Laien zugänglich zu machen. Für
den wissenschaftlich Interessierten bietet das Buch reiches
Material aus unterschiedlichen Quellen, ergänzt durch die
weiterführenden ausführlichen Literaturangaben.
Interessierte Laien hingegen finden einen, nicht immer leicht
lesbaren, Zugang über Zeitzeugnisse und anschaulich dargestellte
historische und sozialpsychologische Zusammenhänge zur NS- und
Nachkriegsgeschichte und damit der deutschen Identität
(»Marginalisierung und Konkretionsvermeidung als Stichworte nach
Auschwitz und 2. Weltkrieg« so Heer S. 81) und zu der von
politischen Interessen geleiteten und bis heute in Teilen der
Gesellschaft immer noch vorhandene Verleugnung der Verbrechen.
Die Auswertung der Tagungen in Hofgeismar sind für einen, der nicht
daran teilgenommen hat, nicht leicht nachzuvollziehen, können aber
dennoch zum Nachdenken anregen. Positiv fand ich die
unterschiedliche Herangehensweise an das Thema und den
Perspektivwechsel – historisch, sozialpsychologisch und
psychoanalytisch –, die differenzierende Einblicke ermöglichen und
kritisches Nachdenken anregen.
Fazit
Das Buch eignet sich vorzüglich für den Gebrauch im Unterricht
(Gymnasium und Universität), da es sich differenziert und aus
unterschiedlichen Perspektiven mit der privaten und öffentlichen
Verleugnung von geschichtliche Tatsachen und der Gefahr einer
daraus resultierenden beschädigten, weil verlogenen oder verzerrt
wahrgenommenen, Identität befasst, die individuell und
gesellschaftlich nicht nur vorübergehende, sondern auch dauerhaft
destruktive ›Gefühlserbschaften‹ (S. Freud 1909) hinterlässt. Da
aber Kinder nicht nur Erben sondern auch eigenständige Personen
sind empfehle ich dazu die bereits umfangreich vorliegende
Literatur zur Kindheit in der NS-, Kriegs- und Nachkriegszeit
hinzuziehen.
Gertrud Hardtmann. Rezension vom 15.03.2016 zu: Jan Lohl, Angela
Moré (Hrsg.): Unbewusste Erbschaften des Nationalsozialismus.
Psychoanalytische, sozialpsychologische und historische Studie.
Psychosozial-Verlag (Gießen) 2014. ISBN 978-3-8379-2242-4. In:
socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245,
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