Rezension zu Geschwisterdynamik

Kontext. Zeitschrift für Systemische Therapie und Familientherapie Band 46, 3/2015

Rezension von Susanne Altmeyer

Haben Sie gewusst, dass Kinder im Alter von drei bis fünf Jahren doppelt so viel Zeit mit ihren Brüdern und Schwestern wie Zeit mit ihrer Mutter verbringen? Dass bei den Kwara’ae in der Südsee, einer melanesischen Stammesgesellschaft, der Vater Kritik an einem jüngeren Kind übt, indem er sie gegenüber einem älteren Kind äußert, das wiederum die Kritik dem jüngeren vorträgt, dem sie eigentlich gilt, und dass das jüngere sie so besser akzeptieren kann? Dass Sigmund Freud im Alter von 23 Monaten seinen 15 Monate jüngeren Bruder Julius verlor, eine traumatische Erfahrung, die er in seinem Werk überwiegend verschwieg, die ihn aber möglicherweise stark beeinflusste? Das sind drei von vielen wissenschaftlichen Informationen, die man in dem Band »Geschwisterdynamik« findet und die Hinweise geben auf die Bandbreite des Themas, das in der psychotherapeutischen Literatur noch vergleichsweise wenig vertreten ist. Der kleine Band ist in zwei große Abschnitte gegliedert. Der erste größere Teil befasst sich auf circa 80 Seiten mit einer Konzeptionalisierung von Geschwisterbeziehungen. Spannend wird es allerdings schon vorher: in der Einleitung nämlich. Der Autor weist darauf hin, dass Geschwisterbeziehungen bis in die 80er Jahre im psychoanalytischen Diskurs geradezu tabuisiert worden sind, obgleich die klinische Erfahrung und häufig auch Studienergebnisse zeigen, dass Geschwister in ihrer Bedeutung vor den Eltern rangieren.

Die ersten Kapitel beschäftigen sich mit Sigmund Freud, seinen eigenen Geschwistererfahrungen und ihre Widerspiegelung in der Bedeutung, die er Geschwistern in seiner Theorie einräumt. Der Autor beschreibt eine mehrfach traumatische Erfahrung bei Freud, die zu einer negativen Sicht der Geschwisterdynamik geführt habe und die er nicht in der Lage war, selbst zu lösen. Daran anschließend fokussiert er auf die Bedeutung der Geschwisterbeziehung für unser Konzept der Interpersonalität der Persönlichkeit, stellt Instrumente zur Erfassung der Geschwisterdynamik vor und beschreibt dann die horizontale Beziehungsebene zwischen Geschwistern. Er betrachtet die Geschwisterdynamiken im Lebenslauf und geht auf so interessante Phänomene wie Fantasiegeschwister, Mentalisierungs- und Resilienzprozesse ein. Mit dem Thema der Geschwister innerhalb des Familiensystems beschäftigt er sich ausführlicher, sowohl in einfachen als auch zusammengesetzten Familien, in Familien mit nur einem sowie mit mehreren Kindern. Er zeigt dabei eine große Einfühlsamkeit im Erkennen von traumatischen Geschwistererlebnissen, ihrer Überwindung und Prävention.

Klischees und Vorurteile in Bezug auf die Position eines Menschen in der Geschwisterreihe führt er nachhaltig ad absurdum, indem er sehr überzeugend den Beweis antritt, dass Eltern, egal ob von Einzel- oder Geschwisterkindern, in der Verantwortung sind, für ein Umfeld zu sorgen, in dem empathische psychosoziale Kompetenz entstehen und sich entwickeln kann. Sohni führt an, dass Geschwister in ihren frühen Jahren doppelt soviel Zeit miteinander verbringen wie mit Mutter beziehungsweise Vater, und es wird der Leserin bewusst, dass man sich mit seinen Geschwistern in einer Beziehung befindet, die sich lebenslang verändert und entwickelt und sich auf alle Mitglieder im Familienverbund in ihren Lebensphasen auswirkt.

Der zweite Teil des Buches, der das letzte Drittel umfasst, widmet sich dem Thema »Geschwisterdynamik in der Psychotherapie«. Sohni spart auch schwierige Themen wie Gewalt und Missbrauch nicht aus und zeigt, welche Möglichkeiten die Berücksichtigung der Thematik in verschiedenen Therapiesettings bietet. Die vielen Fallbeispiele, die das gesamte Werk durchziehen, wirken dabei illustrierend und belebend.

Insgesamt geht es in dem Buch nicht nur um »Geschwisterdynamik«, sondern vor allem um Familiendynamik, und auch wenn der Autor Psychoanalytiker ist und vieles aus einer psychoanalytischen Perspektive betrachtet wirkt es insgesamt wie eine vielperspektivische systemisch beleuchtende Bestandsaufnahme des familiären Alltags unserer Moderne in all ihren Facetten und Möglichkeiten, Kindern mit Geschwistern und/oder Peers in einem ihnen gerecht werdenden Umfeld eine chancenreiche Perspektive zu bieten. Mein Fazit: sehr lesenswertes Werk, gehört in jedes Psychotherapeutenregal!

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