Rezension zu Verbrecher, Bürger und das Unbewusste

Polizei-Newsletter, Februar 2015

Rezension von Plank Holger

Peter Möhring: »Verbrecher, Bürger und das Unbewusste – Kriminologie mit psychoanalytischem Blick« [1]

Der Autor, Peter Möhring, Dr. med. habil. und M. A. (Kriminologie), ist Psychoanalytiker, Kriminologe, Lehranalytiker, niedergelassener Facharzt für psychotherapeutische Medizin und Privatdozent am Klinikum der Justus-Liebig-Universität Gießen. Seit 1993 praktiziert er als Facharzt und Psychotherapeut. Er befasst sich u. a. mit psychoanalytischer Kulturtheorie, forensisch-psychiatrischen Fragestellungen und Kriminologie. Für das vorgelegte Werk wird er inhaltlich und sprachlich hoch gelobt.

So führt einleitend Lorenz Böllinger, Prof. em. für Strafrecht und Kriminologie der Universität Bremen [2] und (aktives) Mitglied des Instituts fir Sicherheits- und Präventionsforschung [3] (ISIP) der Universität Hamburg, Bemerkenswertes im Vorwort aus. Möhring sei eine »allumfassende humanitäre Kriminalitätstheorie« gelungen. Er habe die Fähigkeit zu einem »Höchstmaß an Integration disparater, perspektivisch unterschiedlichster Theorieansätze und Anwendungsbezüge der Kriminologie mit Soziologie, Kulturtheorie, Philosophie, Literatur … und dem modernen Stand der Psychoanalyse … in transdisziplinärer Struktur« bewiesen. Das Werk biete eine »triangulierend reflexive Analyse allgegenwärtiger Kriminalität«!

Kann ein im Fachteil 190-seitiges Werk, gegliedert in 14 Kapitel, diesem hohen Anspruch tatsächlich gerecht werden? Wie äußert sich der Autor selbst?

Möhring jedenfalls resümiert seine Bemühungen, eine praxisrelevante psychoanalytisch konnotierte Kriminologie zu beschreiben, selbst (vgl. S. 182): »Unter keinen anderen Bedingungen wird der Blick so umfassend, wie wenn man den Gegenstand der Betrachtung als in einem Prozessgeschehen begriffen mittels Individualpsychologie, Objektbeziehungen und familiärer Dynamik sowie der sozialen und kulturellen Einbettung konzeptualisiert und dabei für jede dieser Ebenen einen umgreifenden negativ präsenten unbewussten Raum annimmt, aus dem Motive für Emotion, Handlung und Hemmung wirksam werden. Praxistauglich ist dies insofern, als es verspricht, die Fehlerquellen für mögliche Entscheidungen soweit es geht zu reduzieren«.

Abweichendes Verhalten, so Möhring, sei in jedem Menschen angelegt. Verantwortung und Schuld, als gesellschaftliche Konstruktionen [4], verhindern extreme Abweichungen. Dies steht allerdings in gewissem Widerspruch zu dem zitierten Fabricius [5], der alio loco konstatiert, dass das Schuld- und Verantwortungsprinzip »in eine prekäre Lage« geraten sei, weil »weder die Strafrechtler noch die Kriminologen wissen, was Schuld ist« [6].

Ergänzend zu (den nur kurz angerissenen kriminologisch-sozialwissenschaftlichen) ätiologischen Ansätzen / Theorien zur gesellschaftlichen Bedeutung abweichenden Verhaltens versucht Möhring, diese komplementär durch psychoanlaytische Theorien zur Persönlichkeit und zur sozialen Struktur der Delinquenz und des Strafens zu ergänzen. Dabei legt er einen Schwerpunkt auf die Bindungsforschung (ausgehend von Bolwbys Bindungstheorie [7]), ethnopsychoanalytische [8] Überlegungen zur Beziehung von Psyche und Gesellschaft und biografieanalytische (v. a. primärsozialisative familiäre) Aspekte, die er im zehnten Kapitel auch mit vier soziotypischen »Fallvignetten« (biografiegestützte Devianz Soziogenesen) praktisch erläutert.

Zur näheren Erläuterung des vertretenen individual-psychologischen übertragungsfokussierten Ansatzes verweist Möhring auf neuere Arbeiten zur psychodynamischen Psychotherapie auf der Grundlage der Bindungs- und v. a. der Mentalisierungsforschung [9] von Fonagy u. a [10].

Möhring betrachtet das Zusammenspiel zwischen Psychoanalyse und Kriminologie als Sonderfall des Verhältnisses von Psychologie und Sozialwissenschaften. Die Psychoanalyse stelle »eine umfassende Konzeption des Psychischen auf der Basis der Annahme relevanter unbewusster Wirkfaktoren und von Verbindungen des Individuell-Psychischen zu den Bereichen des Körperlichen und des Soziokulturellen« bereit (S. 73f.). Er sieht in der Ethnopsychoanalyse ein verbindendes bio-psychosoziales Element für einen integrativen Ansatz mit dem Ziel einer gezielteren therapeutischen Interventionsstrategie, deren konkrete Ausformung er allerdings leider nur andeutet [11].

Ich stimme mit dem Rezensenten Hahn (vgl. [1]) überein, dass es Möhring gelungen ist, in anregendem Dialog mit dem Leser die »losen Enden sozialwissenschaftlicher Kriminologie und der Psychoanalyse« aufzugreifen und Ansätze aufzuzeigen, wie man diese in Anknüpfung an die anfangs und Mitte des letzten Jahrhunderts mit Franz Alexander und Hugo Staub [12], Freud, Herren [13] bis hin zu aktuelleren Ansätzen von Rauchfleisch, Berner, Pfäfflin oder Böllinger ggf. zusammenführen könnte. Obwohl die hierzu notwendige Konzeptualisierung leider nur vage zum Ausdruck kommt, ist dem Autor ein lesenswerter »Überblick zu den Chancen einer Integration von soziologischer Kriminologie, Psychoanalyse und Kulturtheorie sowie teilweise der Philosophie« (vgl. Hahn) durchaus gelungen. Das Buch ist sehr lesenswert und anregend, seinem selbst gesetzten hohen Anspruch (vgl. oben) kann es in diesem Umfang und bei der gewählten Konzeption aber sicher nicht vollständig genügen.

Holger Plank, im Februar 2015

[1] Vgl. auch den ausführlichen Beitrag des Rezensenten Dr. Hahn unter dem Link: http://www.socialnet.de/rezensionen/l7449.php
[2] Siehe http://www.iura.uni-bremen.de/people/lorenz-boellinger
[3] Siehe Mitarbeiterübersicht Website ISIP Prof Dr. Böllinger
[4] Möhring definiert diese eher aus sozialspsychologischer Sicht als Projektion unbewusster Anteile der Gesellschaft auf die »Täterpersönlichkeit«, also als Zuschreibungsprozesse, die die deviante Persönlichkeit in ihrer Rolle definieren und fixieren.
[5] Prof. em. Dr. Dirk Fabricius, Lehrstuhl für Strafrecht, Kriminologie und Rechtspsychologie, Uni Frankfurt
[6] Dirk Fabricius in »Justitia, Freud und die Dichter – Rechtspsychoanalytische Betrachtungen literarischer Texte«, Psychosozial-Verlag, 2012, S. 17ff.
[7] Kurzzusammenfassung der Bindungstheorie Bowlbys, vgl. http://wwwpsy.uni-
muenster.de/imperialmd/content/psychologieinstitut3/aebromme/pdf/vonbrachel/entwicklung/sitzung3bindungstheorie.pdf
[8] Vgl.http://www.spektrum.de/lexikonlpsychologie/ethnopsychoanalyse/4461, Lexikon der Psychologie, »Ethnopsychoanlyse«
[9] Vgl. http://mentalisierung.net/mentalisieren und psychoanalyse/
[10] Dazu empfiehlt er begleitend den lesenswerten Sammelband »Psychodynamische Psychotherapie bei Delinquenz – Praxis der übertragungsfokussierten Psychotherapie«, hg. von Lackinger, Dammann und Wittmann im Schattauer Verlag Stuttgart, 2008; dort insbesondere auf die Beiträge von Dammann, Fonagy zur Persönlichkeitsstörung und Gewalt, Lackinger zur psychodynamischen Strukturdiagnostik bei persönlichkeitsgestörten Delinquenten und Wittmann zur antisozialen Abwehr versus Psychopathie.
[11] Vertiefend hierzu empfiehlt der Rezensent Hahn den Titel »Psychoanalytisch orientierte Familien- und Sozialtherapie«, Peter Möhring / Terja Neraal (Hg.), Psychosozial-Verlag Gießen, 2014 (vgl. http://www.psychosozial-verlag.de/pdfs/leseprobe/9783837923674.pdf)
[12] »Der Verbrecher und sein Richter – Ein psychoanalytischer Einblick in die Welt der Paragraphen«, Int. Psychoanalytischer Verlag, Wien, 1929
[13] »Freud und die Kriminologie – Einführung in die psychoanalytische Kriminologie«, Ferdinand Enke Verlag, Stuttgart, 1973

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