Rezension zu Gefängnisaufzeichnungen
Konkret: Politik & Kultur 2/16
Rezension von Tjark Kunstreich
»Ja, im Traum, dem / Reiche ohne Schranken / wars, dass wir erlöst
den Kelch der Freiheit tranken.« So endet das Gedicht
»Neujahrsgalgenlied«, das Edith Jacobson in der Untersuchungshaft
zur Jahreswende 1935/36 geschrieben hat, nicht wissend, ob sie noch
einmal lebend aus Hitler-Deutschland herauskommen würde. Als sie am
8. Dezember 1978 in Rochester, New York, im Alter von 81 Jahren
starb, wurde sie von ihren psychoanalytischen Kolleginnen und
Kollegen als eine Theoretikerin und Klinikerin betrauert, in deren
Wirken noch viel von ihrer Zeit im alten Berliner Institut spürbar
war. Jacobson hatte ihre Ausbildung 1925 begonnen, ihr
Lehranalytiker war Otto Fenichel; sie gehörte wie er zu den linken
Freudianern, sie war befreundet mit Wilhelm Reich und seiner
damaligen Frau Anni Reich. Als eine von wenigen jüdischen
Analytikerinnen verließ sie Deutschland nach 1933 nicht, sondern
versuchte sogar, weiter psychoanalytisch zu arbeiten. Sie wurde
noch zur Lehranalytikerin ernannt und gab auch Unterricht. Ende
Oktober 1935 wurde sie von der Gestapo verhaftet und sollte über
zwei Jahre in Haft verbringen. Vorgeworfen wurde ihr die Behandlung
von Patientinnen und Patienten, die Mitglieder der
Widerstandsgruppe Neu Beginnen gewesen sein sollen. Jacobson war
selbst Mitglied dieser Gruppe, aber darüber, ob und welche Funktion
sie gehabt hat, gehen die Meinungen auseinander. Sie wusste, dass
sie beobachtet worden war, und hatte sich dennoch entschieden, nach
einem Aufenthalt in Kopenhagen, wo sie im Herbst 1935 Fenichel
traf, nach Berlin zurückzukehren. Auch hier gibt es
unterschiedliche Einschätzungen, was Jacobson zu diesem Schritt
veranlasst haben könnte: die Sorge um Mutter und Bruder, die
ebenfalls beide noch in Deutschland waren und für die sie sich nach
dem Tod des Vaters verantwortlich fühlte, die Verantwortung für die
Patientinnen und Patienten, die sie nicht im Stich lassen wollte,
oder eben auch die Widerstandstätigkeit, die sie nicht aufgeben
wollte. Jacobson hatte sich bis dahin schließlich auch nicht aus
der Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft (DPG) vertreiben
lassen, obwohl sie wusste, dass ihre Widerstandsaktivitäten unter
den Unvereinbarkeitsbeschluss fielen, mit dem die DPG die Anpassung
ans Nazi-Regime betrieb, und obwohl sie als Jüdin wusste, dass ihre
Möglichkeiten zur Berufsausübung immer weiter eingeschränkt werden
würden.
Über Jacobsons Zeit im Gefängnis war bekannt, dass sie gelesen und
geschrieben hat, dass sie sich um Mitgefangene gekümmert hat; ihre
Aufzeichnungen jedoch galten als verschollen, abgesehen von
einzelnen losen Blättern im Nachlass. In der Haft schrieb sie den
Beitrag »Wege der weiblichen Überich-Entwicklung«, der aus dem
Gefängnis Moabit herausgeschmuggelt werden konnte und den Fenichel
als anonymen Beitrag auf dem Internationalen
Psychonalytikerkongress 1936 in Marienbad vortrug. Auch konnte
Jacobson selbst offenbar auf Notizen ihrer Haftzeit zurückgreifen,
als sie nach dem Krieg einen Beitrag über die Wirkungen der Haft
auf weibliche politische Gefangene schrieb.
Nun ist, nach 80 Jahren, ein Konvolut von Gefängnisaufzeichnungen
im Privatarchiv der Sozialwissenschaftlerin Judith Kessler, der
Mitherausgeberin des Buches, aufgetaucht, nachdem sie ihn aus dem
Nachlass ihrer Mutter übernommen hatte. Dieses schwarze Heft und
einige einzelne Seiten beinhalten Tagebucheinträge aus den ersten
Tagen nach der Verhaftung, zahlreiche Gedichte sowie zwei
theoretische Versuche, die sie später ausarbeiten sollte. Wie
dieses Heft in den Nachlass von Kesslers Mutter gekommen ist, kann
nicht mehr nachvollzogen werden. Kesslers einleitender Beitrag
beschreibt, warum es so lange gedauert hat, bis sie sich der
Bedeutung des Fundes bewusst werden konnte. Schon 2005 ist ein von
Ulrike May und Elke Mühlleitner herausgegebener Band mit
Materialien zu Jacobson erschienen, der auch die bereits
zugänglichen Gedichte und Notizen aus dem Gefängnis dokumentiert
und eingeordnet hat. Dieses schwarze Heft aber, stellt Kessler
fest, stammt aus der ersten Phase der Haft, also der
Untersuchungshaft und der Zeit des Prozesses. So können wir nun,
beginnend bei den ersten tagebuchartigen Eintragungen über
Abschriften von Gedichten sowie Selbstgedichtetem bis hin zu
klinischen Überlegungen, einen Eindruck gewinnen von der Fähigkeit
Jacobsons, psychische Überlebensstrategien zu finden, um nicht zu
zerbrechen. Unter diesen Bedingungen beispielsweise ein Sonett zu
schreiben, erfordert wohl ein hohes Maß an Konzentration und
Selbstversenkung; zugleich an sich selbst und den Mitgefangenen
Depersonalisationserscheinungen zu beobachten, große Neugier und
Selbstbeobachtungsgabe. Dass diese Seiten auch faksimiliert sind,
ermöglicht zudem, die Überarbeitungen und die Schwankungen der
Handschrift nachzuvollziehen. Der Coherausgeber Roland Kaufhold
trägt in einem Beitrag zusammen, was über Jacobson bekannt ist, und
stellt ihre Biografie in den Kontext jener Psychoanalytikerinnen
und Psychoanalytiker, die gegen den Nazi-Faschismus Widerstand
geleistet haben. Das Buch verbindet verschiedene Ebenen
miteinander: die Zufälle des Forschens und Recherchierens, die
Einordnung in die immer wieder mit anderer Betonung geschriebene
Psychoanalysegeschichte und eine erneute Annäherung an die
Persönlichkeit Jacobsons und deren Stabilität und Brüchigkeit in
der Haft. Im Februar 1938 bekam sie wegen Krankheiten Hafturlaub
und konnte aus der Klinik über Prag nach New York fliehen, wo sie
noch über 30 Jahre als Psychoanalytikerin praktizierte. Da sie
selbst nie wieder über ihre Haft und ihr Leben in Deutschland
gesprochen hat, sind diese Aufzeichnungen aus dem Gefängnis ein
bedeutender Beitrag zu ihrer Biografie: Sowohl in den Gedichten,
die von der Autorin kaum zur Veröffentlichung vorgesehen waren, als
auch in den klinischen Aufzeichnungen scheint durch, was sie auch
weiterhin beschäftigen sollte.