Rezension zu Scham
Psychologie Heute Juni 2015
Rezension von Uwe Britten
»Man kann sich auch vor sich selbst schämen«
Schamerlebnisse kommen für manche Menschen einer psychosozialen
Katastrophe gleich. Schnell werten sie sich dann als ganze Person
ab. Deshalb brauchen wir mehr Milde uns selbst gegenüber, sagt der
Psychotherapeut Jens Tiedemann.
Herr Tiedemann, wenn ich jetzt sagen würde, Sie hätten eine Nudel
am Kinn, wäre Ihnen das peinlich?
Wahrscheinlich. Ob uns etwas peinlich ist oder nicht, hängt jedoch
immer vom Kontext ab. Würde jetzt eine Autoritätsperson neben uns
stehen, dann wäre es mir peinlich.
Warum eigentlich?
Peinlichkeit hat immer etwas mit der Nichteinhaltung sozialer
Normen oder mit Tollpatschigkeit zu tun. Wir stehen dann mit beiden
Füßen im Fettnapf. Wer will vor anderen schon gerne mit einer
Nudel am Kinn erscheinen?
Stehen wir aber zu Hause allein vor dem Spiegel und sehen die Nudel
am Kinn, dann schämen wir uns nicht?
Doch, man kann sich auch vor sich selbst schämen. Den
verinnerlichten Beschämer tragen wir in uns. Ich kann mich also
vor dem eigenen Spiegelbild schämen und mich fragen, ob ich so
gesehen werden will. Ich kann mich auch erst nachträglich im
stillen Kämmerlein für die Nudel am Kinn schämen. Zum Wesen der
Scham gehört es, dass ich eine Diskrepanz erlebe zwischen dem, wie
ich gerne dastehen würde, und wie ich konkret bin oder mich
erlebe.
Wir haben dann einen fremden Blick in uns.
Wir haben einen fremden Blick in uns, mit dem wir uns von außen
betrachten. Das Schamerleben setzt ungefähr mit zweieinhalb bis
drei Jahren ein, also ab dem Alter, in dem wir uns auch schon im
Spiegel wahrnehmen können. Es sind Tests vor Spiegelbildern
durchgeführt worden, mit denen sich das nach- weisen lässt. Man
könnte sagen, es handle sich, wenn wir vor dem Spiegel stehen, um
eine »objektive Selbstreflexion«: Ich kann mich von außen
beobachten. Damit sind wir auch in der Lage, den Blick eines
anderen einzunehmen, können uns also die Frage stellen: Bin ich
gerade peinlich?
Wer beobachtet uns denn am meisten?
Wir uns selbst. Wir haben ständig diesen inneren Beobachter
mitlaufen. Im besten Fall ist das eine positive Selbstprüfung,
über die wir uns beispielsweise an bestimmten Konventionen
orientieren, und zwar meistens unbewusst. In extrem negativen
Fällen kann das aber auch eine ständige Selbstverurteilung oder
Selbstverunglimpfung nach sich ziehen.
Ansonsten sind wir natürlich in der Kindheit ständig beobachtet
worden, insbesondere von unseren Eltern. Das zeigt sich auch an dem
expliziten erzieherischen Spruch: »Schäm dich!« Das heißt: »So
möchte ich dich nicht sehen!« Im Laufe der Jahre lernen wir dann,
diesen Blick von außen zu verinnerlichen. Wir fangen an, uns
stärker zu beobachten und damit auch zu bewerten.
Wofür schämen wir uns denn?
Es gibt kulturübergreifende Themen und Schamszenen. Zum Beispiel
schämen sich die Menschen überall auf der Welt, wenn sie
versehentlich eine Toilettentür öffnen, hinter der schon jemand
sitzt.
Ansonsten ist das Schämen sehr individuell. Die Inhalte können
ganz spezifisch sein und sind immer im jeweiligen Lebensverlauf
entstanden. Bei persönlichen Makeln, Schwächen, Defiziten
arbeiten wir mit einem Ideal von uns, das in der Psychologie »Ich-
Ideal« genannt wird. Grundsätzlich ist wichtig, wie stark so ein
Ideal ausgeprägt ist. Perfektionisten beispielsweise haben ein
starkes Ich-Ideal. Auch schüchterne, introvertierte Menschen
schämen sich schnell, was im Extrem bedeuten kann, dass schon
winzige Schwächen zur Selbstabwertung herhalten müssen. Eine
extravertierte Person geht mit einem vermeintlichen Makel
vielleicht eher offensiv um und macht einen Witz daraus. Wichtig
ist also, wie ich mit Schamgefühlen generell umgehe – verleugne
ich sie eher, oder nutze ich sie sogar noch zu einer Pointe? Es
gibt Menschen mit Makeln, die gehen damit ins Fernsehen und
inszenieren sich.
Dabei wissen wir doch ohnehin: Jeder Mensch hat Fehler.
Der Perfektionismus und die Selbstoptimierung haben in unserer Zeit
eine gewaltige Bedeutung. Die eigenen inneren Ansprüche sind das,
was uns oft quält. 60 Prozent aller Eltern fühlen sich heute
überlastet, und zwar nicht, weil sie real von der alltäglichen
Erziehung überfordert sind, sondern durch die eigenen Ansprüche.
Das entsprechende Gefühl des Scheiterns verursacht dann Scham. Nie
bin ich so gut, wie ich sein will.
Wovor fürchten wir uns denn beim Blick von außen?
Scham- und Schuldgefühle sorgen dafür, dass wir soziale Normen
einhalten. Vor Jahrtausenden wäre eine Vertreibung aus der
Stammesgemeinschaft unser Todesurteil gewesen. Im Mittelalter kam
man immerhin noch an den Pranger, den Ort der öffentlichen
Beschämung und Demütigung. Der mediale Shitstorm ist quasi ein
modernes Pendant zum Pranger. Scham ist ja im Kern die Angst vor
Ablehnung. Scham wird von vielen daher als eine psychosoziale
Katastrophe empfunden. Wir fürchten den verachtenden Blick des
anderen beziehungsweise die vorgestellte Verachtung im Blick des
anderen. Im Positiven schützt die Scham unsere Privatheit und
Intimität und sichert damit auch ein möglichst reibungsloses
Miteinander. Daher bezeichne ich Scham auch als »sozialen
Klebstoff«.
Wie bewusst ist uns bei so manchen sozialen Konflikten, dass uns
eigentlich Scham leitet?
Das Faszinierende an der Scham ist, dass sie sowohl eine verdeckte
als auch eine verdeckende Qualität hat. Viele Gefühle erleben wir
offen und auch ganz bewusst. Schamgefühle decken wir aber lieber
schnell wieder zu oder verändern sie in etwas anderes, wir kehren
sie etwa in Aggressionen um, und zwar auf uns selbst gerichtet in
Form von Depressionen oder gegen andere. Das bedeutet, dass es eine
»umgangene« Scham gibt, in der wir die Scham gar nicht direkt als
schmerzhaftes Gefühl wahrnehmen, sondern durch erträglichere
Gefühle überdecken. Allerdings deckt die Scham ihrerseits auch
andere Gefühle zu, versperrt zum Beispiel den Zugang zu Stolz,
Freude, Lebendigkeit und Sich-zeigen-Wollen.
Scham ist auch eine häufige Quelle für Gewalt. Beschämungen sind
oft der Keim von Gewalttaten, das lässt sich selbst bei
kriegerischen Konflikten zwischen Staaten und ihren Bevölkerungen
zeigen. Aus der Beschämung resultieren dann Hass und
Rachegefühle. Wir erleben ja gerade auch, dass selbst Karikaturen
andere Menschen tief beschämen können. Subjektiv empfundene
Respektlosigkeit und der Verlust der Ehre erscheinen dann nur mit
Gewalt beantwortbar. Dem Betreffenden ist dabei oft gar nicht
bewusst, dass er sich schämt. Die Scham wird verdeckt. Für so
manchen ist Scham das unangenehmste Gefühl, das er sich vorstellen
kann. Scham kann uns völlig überfluten.
Wenn ich mich schäme, dann deshalb, weil ich etwas von mir
preisgegeben habe. Ich nenne das den »Schamkater«, das Gefühl
danach. Wird das Schamerleben allzu sehr verdeckt, verhüllt, dann
bricht es schlimmstenfalls in psychischen Symptomen wieder heraus,
etwa in einer sozialen Phobie, bei der ich eine übermäßige Angst
habe vor der Bewertung durch andere und mich im extremen Fall kaum
mehr aus dem Haus wage. Diese Menschen sind sich meistens gar nicht
darüber im Klaren, dass im Zentrum ihrer Gefühle eine Schamangst
steht, also die Angst davor, in eine beschämende Situation kommen
zu können. Es geht dann gar nicht um einzelne Defizite, sondern
sie schämen sich für sich als Person insgesamt und haben große
Probleme, überhaupt in die Nähe anderer Menschen zu kommen.
Eklatant wird das dann in sexuellen Situationen.
Die Scham ist ein sehr körpernahes Gefühl, etwa wenn es um
Nacktheit geht. Das lernen wir schon aus der Bibel: »Sie erkannten
ihre Nacktheit und schämten sich.« Also überhaupt die
Menschwerdung wird hier mit dem Gefühl der Scham verbunden.
In psychologischer Sicht ist unsere Sexualität immer konflikthaft,
auch wenn wir heute äußerst liberal sind, was sexuelle Vorlieben
und Praktiken betrifft. Der Psychoanalytiker Peter Fonagy hat
vermutet, dass diese Befangenheit damit zusammenhängt, dass
sexuelle Gefühle die einzigen sind, die in unserer Kindheit nicht
von den Eltern empathisch erwidert und gespiegelt werden. In der
heutigen Sexualität herrscht zudem ein enormer
Selbstdarstellungsdruck bezüglich körperlicher Attraktivität,
sexueller Kenntnisse – das wird aus den Pornoangeboten im Internet
gespeist –, sexueller Leistungsfähigkeit, kurz: ein
Perfektionsideal. Das lässt die Gefahr der Scham bei der
Sexualität wachsen. Wie sieht es mit meiner Erektionsfähigkeit
aus? Bin ich verführerisch genug? Schon vor dem eigentlichen
sexuellen Kontakt existiert also eine Intimitätsscham, wenn ich
mich und meinen Körper, wie er nun mal ist, nackt zeigen muss. Hat
man dann Sex, kommt noch die Furcht vor einem Kontrollverlust
hinzu, dann stellt sich nämlich immer die Frage: Wie weit will ich
mich damit zeigen? Denken wir nur mal an die »Entgleisungen«
unseres Gesichts beim Orgasmus.
Sie sprechen auch von einer Abhängigkeitsscham. Unsere
Nähewünsche können uns also auch peinlich sein?
Ja, das ist bei uns Menschen eigenartig: Wenn uns unsere
Abhängigkeitsgefühle bewusstwerden, schämen wir uns häufig für
sie. Die Abhängigkeit ist vielleicht schambesetzt, weil es
tendenziell unserem Reifeideal widerspricht: Ein erwachsener Mensch
muss unabhängig sein – übrigens auch unabhängig von der
Anerkennung anderer. Trotzdem sind wir immer Abhängige, das
gehört eben zu unserem Menschsein. Und als Abhängige sind wir
immer auch verwundbar.
Wir werden bei Scham oft rot und möchten gleichzeitig im Boden
versinken. Wie kommt es, dass wir uns zwar auffällig machen wie
ein Fliegenpilz im Schnee, zugleich aber am liebsten gar nicht zu
dieser Zeit an diesem Ort wären?
Das Rotwerden ist paradox: Einerseits ist Rot natürlich eine
Signalfarbe, die dem Gegenüber signalisiert: »Schau her, sieh mich
an!« Andererseits ist der begleitende mimische Ausdruck der, als
würden wir am liebsten verschwinden wollen, ein »Lass mich in
Ruhe!«. Paradox ist das deshalb, weil die Scham ein temporärer
Rückzug im Dienste der Beziehungserhaltung ist. Das hat also etwas
Ambivalentes. Ich vermeide in der Scham etwa den Blickkontakt,
gleichzeitig suche ich aber den Kontakt, weil ich auf die
Wiedergutmachung hoffe.
Kann das Rotwerden auch einen Signalcharakter haben: Ja, du hast
mich erwischt, aber jetzt kümmere dich doch bitte um mich?
Auch das kann eine Rolle spielen. Anders als beim Schulderleben,
bei dem wir eher erblassen, enthält das Rotwerden durchaus einen
Appellcharakter, vielleicht sogar eine Unterwerfungsgeste, zumal es
oft gerade in Konstellationen mit ungleichen sozialen Rollen
stattfindet. Es sind besonders Autoritätspersonen, die uns
beschämen können. Dann zeigen wir mit dem Rotwerden unsere Bitte:
»Gib mir ein Zeichen, dass das nicht so schlimm war, was ich soeben
gemacht habe!«
Wenn wir selbst nun bemerken, dass wir jemanden beschämt haben –
wie sollten wir reagieren, um denjenigen zu entlasten?
Manchmal hilft lachen. Aber das ist riskant, denn wir können mit
jemandem lachen und über ihn. Der Beschämte fühlt sich schnell
ausgelacht. Wir können auch versuchen, die Beschämung zu
übersehen, dann aber kann dieser kleine Bruch, der durch die Scham
in der sozialen Beziehung eintritt, doch im Raum stehenbleiben –
was auch nicht unsere Absicht ist. Ebenfalls zweischneidig ist es,
wenn wir die Scham offen ansprechen, denn das kann sie sogar noch
verstärken. Wir setzen sozusagen noch eins drauf. Das ist die
sekundäre Scham, bei der sich der andere schämt, weil er sich
schämt. Das ist alles nicht so einfach. Wichtig ist, die Beziehung
weiterzuführen und zu pflegen, um so zu signalisieren: Es war
alles gar nicht so schlimm, das heißt, der schamverursachte
Beziehungsabbruch lässt sich wieder reparieren.
Wenn nun ich es gewesen wäre, der zu Beginn unseres Gesprächs
eine Nudel im Gesicht gehabt hätte, hätten Sie es mir gesagt?
Ja, ich hätte es Ihnen gesagt. Mit der Nudel ist das ja nicht so
schlimm. Viel schwerer fällt es uns meistens beim »Klassiker«, der
offenen Hose. Also zum Beispiel: Wie weise ich meinen Chef darauf
hin, dass seine Hose offen ist? Bei Frauen, die gerade von der
Toilette kommen, kann das auch der in der Strumpfhose eingeklemmte
Rock sein. Da kommt es sehr auf die Art der Beziehung an. Die
Schwierigkeit dabei ist, dass wir zwar jemandem die Beschämung
ersparen wollen, aber: Indem wir die offene Hose ansprechen,
beschämen wir selbst ihn. Der andere schämt sich dann, dass es
überhaupt jemand bemerkt hat. Bei manchen Menschen ist deshalb das
Fremdschämen so stark, dass sie tatsächlich den Schritt nicht
gehen können, den anderen darauf aufmerksam zu machen.
Scham ist außerdem ein Gefühl, das ansteckt. Erlebe ich eine
Person, die sich zutiefst schämt, steckt mich das an, ich erlebe
das mit. Die Scham ist deshalb auch als ein Grenzaffekt zwischen
mir und dem anderen bezeichnet worden. Zeuge einer beschämenden
Situation zu werden führt dazu, dass ich mich mitschäme. In
welchen Situationen wir uns aber mitschämen, hat mit uns und
unserer eigenen Schamverarbeitung zu tun.
Als Psychotherapeut müssen Sie ja oft etwas ansprechen, was die
Patienten beschämt.
Das stimmt. Das ist nicht immer leicht. Man stößt da oft an die
Urscham, dass sich der andere als ein verachtenswerter Mensch
erlebt. Wenn sich solche Menschen dann aber öffnen und diese Scham
ausdrücken – das muss nicht unbedingt vor Psychotherapeuten sein
–, dann hat das etwas menschlich tief Verbindendes, das kann
emotional sehr ergreifend sein. Chronisch beschämt und als Kind
vielleicht immer ausgelacht worden zu sein – wenn das jemand vor
uns ausdrückt, dann ist das zwischenmenschlich sehr berührend,
auch aufgrund all des Grauens, das dahintersteckt. Das lässt mich
nicht kalt, wenn ein Mensch eine solche Geschichte gehabt hat und
sich damit vor mir öffnet.
INTERVIEW: UWE BRITTEN