Rezension zu Grenzen überschreiten - Unterschiede integrieren
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Rezension von Prof. D. Margret Dörr Dörr
Thema
In diesem Band diskutieren psychoanalytische Psychotherapeut/innen
aus Europa über Grenzüberwindungen und die Integration von
Unterschieden in der Arbeit mit Patient/innen. Schwerpunkte sind
Fragen der psychoanalytischen Konzeptualisierung, Migration und
Interkulturalität, Grenzerweiterung in der analytischen
Behandlungstechnik sowie die psychoanalytische Forschung. Die
Beiträge dieses Bandes basieren auf der Fünften Konferenz der
Erwachsenen-Sektion der Europäischen Föderation für
Psychoanalytische Psychotherapie im Gesundheitswesen (EFPP). Das
Thema der Tagung »Crossing Borders – Integrating Differences«
forderte die Referent/innen heraus, ausgehend von ihrer täglichen
Arbeit als psychoanalytische Psychotherapeut/innen über
Grenzüberwindungen und die Integration von Unterschieden
nachzudenken. Als Leitlinie erinnert Serge Frisch als amtierender
Präsident der EPF und seit einigen Jahren auch Lehranalytiker und
Supervisor am DPG-Institut in Saarbrücken in seinem Vorwort an die
Anfänge der Psychoanalyse: »Freud besteht darauf, dass die
psychoanalytische Psychotherapie ihre Lebenskraft, wie auch ihre
therapeutischen und theoretischen Ideen, aus der Psychoanalyse
ziehen muss.« (12) Sich darauf zu besinnen bliebe essentiell, so
sein Plädoyer, auch wenn die psychoanalytische Psychotherapie
längst Zugriff auf andere Techniken habe, die nicht
psychoanalytisch sind.
Herausgeberin/Herausgeber
Anne-Marie Schlösser, Diplom-Psychologin, ist Psychoanalytikerin in
eigener Praxis in Göttingen sowie Lehranalytikerin. Von 1995-2005
war sie im Vorstand der DGPT, vier Jahre davon als Vorsitzende. Sie
ist Vorsitzende der EFPP sowie Herausgeberin der EFPP book series
bei Karnac und von mehreren Sammelbänden zu analytischen
Themen.
Alf Gerlach, Dr. med., Diplom-Soziologe, ist Psychoanalytiker in
eigener Praxis in Saarbrücken sowie Lehranalytiker. Von 1999-2005
war er Vorstandsmitglied, von 2001-2003 Vorsitzender der DGPT. Er
ist Privatdozent am Fachbereich Humanwissenschaften der Universität
Kassel und seit 2000 Leiter der psychodynamischen Ausbildung für
chinesische Psycholog/innen und Psychiater/innen am Shanghai Mental
Health Center und publiziert zu klinischer Psychoanalyse und
Ethnopsychoanalyse.
Aufbau
Nach einem Vorwort des Präsidenten Serge Frisch und der thematisch
einführenden Einleitung von Anne-Marie Schlösser und Alf Gerlach
sind die weiteren 15 Beiträge unter vier breite Schwerpunkte
gefasst.
Bereits dieser Aufbau des Bandes lässt erkennen, dass keine
klassischen Fragestellungen der Psychoanalyse behandelt werden.
Vielmehr sind es Fokussierungen in der aktuellen
psychoanalytisch-psychotherapeutischen Debatte. Sie spiegeln zudem
Themen der gegenwärtigen gesellschaftlichen Realität wider, durch
die das Nachdenken der psychoanalytischen Psychotherapie
herausgefordert ist.
I Psychoanalytische Konzeptualisierung hinterfragt
II Psychotherapie in Kultur und Gesellschaft – Migration und
Interkulturalität
III Erweiterung der Begrenzung der psychoanalytischen
Behandlung
IV Ist psychoanalytische Forschung möglich?
Zu I Psychoanalytische Konzeptualisierung hinterfragt
Den Auftakt von Abschnitt I macht Christopher Bollas mit seinem
außerordentlich herausfordernden Essay »Übertragungsdeutung als
Widerstand gegen die freie Assoziation«. Seine fachlich sehr
informierten, vehement vorgebrachten Argumente gegen einen derzeit
geradezu »paranoiden Autoritarismus« von Deutungen im »Hier und
Jetzt« der Britischen Schule der Objektbeziehungstheorie sind als
ein radikales Plädoyer für eine verstärkte Offenheit zur Entfaltung
freier Assoziation des Analysanden zu lesen. Mit seinen
beunruhigenden Fragen fordert er von seinen Kolleg/innen ein Ende
der »Verrücktheit der ‚Hier- und jetzt Übertragung« (ebd.) um
zukünftigen Psychoanalytiker/innen-Generationen die Rückkehr zu
nicht wahnhaften Gedankensystemen zu ermöglichen.
Das widerspruchsvolle Begriffspaar »Bindung und Psychoanalyse« wird
von Bernard Golse unter der Frage »Ist der Begriff Bindungstrieb
tatsächlich ketzerisch« untersucht. Dazu arbeitet er subtil die
heuristische Potenz dieses »offenbar ketzerischen« Begriffs heraus,
weist die Möglichkeit nach, einige der augenscheinlichen Aporien
zwischen Bindungstheorie und Metapsychologie zu überwinden und
entwickelt ein Gedankenmodell mit dem es ihm möglich scheint, den
»Bindungstrieb« als eine Brücke zwischen der Triebtheorie und der
Theorie der Objektbeziehungen zu konzipieren.
Die Frage, ob »Ambulante analytische Einzel- und Gruppentherapie
bei Patienten mit Persönlichkeitsstörungen« als eine hilfreiche
Behandlungskombination oder eher als eine Einladung zum Agieren
verstanden werden muss, wird von Herrmann Staats bezüglich der
damit verbundenen äußeren Begrenzungen, den rechtlichen Aspekten,
berufspolitischen Interessen und insbesondere am Beispiel
verschiedener Schwierigkeiten in der Handhabung von Übertragung und
Gegenübertragung erörtert.
Jan Philipp Reemtsma diskutiert entlang der Charakteristik einer
säkularen Gesellschaft die psychotherapeutisch relevante Frage
»Muss man Religiosität respektieren?« In seiner Antwort betont er
zwar einerseits den in einer säkularen Gesellschaft erwartbaren
Respekt für die/den gläubigen Patient/in verweist aber andererseits
auf die kommunikativ-spannungsgeladene Aufgabe jeglicher
Psychotherapie, »einen Menschen fähig zu machen, in eigener Sache
normativ zu entscheiden und sich dieses Umstandes auch bewusst zu
sein.« (93)
Zu II Psychotherapie in Kultur und Gesellschaft – Migration und
Interkulturalität
Abschnitt II versammelt Beiträge, die Psychotherapie in Kultur und
Gesellschaft unter dem aktuell gesellschaftlich relevanten
Blickwinkel von Migration und Interkulturalität betrachten.
Entlang zwei eindrücklicher Fallbeispiele veranschaulicht Peter
Bründl unter dem Titel »Im Schatten des Großvaters – Trauma,
Migration und Kreativität« die dringende psychotherapeutische
Arbeit an den Konflikten zwischen Vergangenheit und Gegenwart.
Dabei fokussiert der Autor auf die besondere Stärke der Analyse
adoleszenter Übertragungsphänomene, um traumatisierten Migrantinnen
und Migranten eine »authentischere Transformation ihres Selbst« zu
ermöglichen, die vor allem davon abhängig ist, sich von den
destruktiven »verfolgenden Gespenster« distanzieren zu können.
Auch der Aufsatz von Sieglinde Eva Tömmel nutzt anschauliche
Fallskizzen mit zwei Patient/innen aus einer muslimischen Kultur um
paradigmatisch zu zeigen, welche immens wichtige Rolle die
Berücksichtigung der kulturellen Herkunft bei der Behandlung von
Migrantinnen und Migrationen hat. Dabei akzentuiert sie zentrale
Anforderungen einer kulturorientierten Psychoanalyse und propagiert
insbesondere die Überwindung des kulturellen Narzissmus seitens der
Behandler/innen »als der nicht immer einfache Schritt in Richtung
der Anerkennung des Anderen als Anderer« (127).
Unter dem Titel »Ähnlich und doch verschieden« formuliert Wouter
Gomperts einige Antworten auf die Frage »Inwiefern beeinflusst die
ethnisch-kulturelle Herkunft und die Einwanderungsgeschichte der
Migranten ihre psychischen Probleme und ihre psychoanalytische
Behandlung« im Niederländischen Psychoanalytischen Institut, eine
Einrichtung für ambulante psychoanalytische Therapie. Neben
»Migration als Entwicklungsinterferenz« »Gesellschaftliche und
häusliche Gewalt« thematisiert er die »Fähigkeit zur Reflexion als
evolutionäre Errungenschaft und als Kulturgut« und stellt sowohl
diagnostische Fehleinschätzungen als auch Fallstricke in der
therapeutischen Beziehung dar.
Elitsur Bernstein spricht in seinem Aufsatz
»Psychotherapieunterricht als Brückenschlag in einem
multikulturellen Umfeld« erfahrungsgesättigt über drei wesentliche
Aspekte, die während des Studiums der Psychotherapie am »Safed
Kolleg in der Region Obergaliläa in Israel« dazu beigetragen haben,
dass tragfähige Verbindungen des gegenseitigen Verstehens zwischen
Fachleuten in einem multikulturellen Umfeld entstehen konnten.
Gegenseitige Empathie, geteilte religiöse Grundüberzeugungen und
eine gemeinsame »Nicht-Muttersprache« (Englisch) – so der Autor –
machen es möglich, dass sich ein Gefühl der Zusammenarbeit in
Gesellschaften, die sowohl kulturell als auch politisch geteilt
sind, entwickeln kann (148).
Zu III Erweiterung der Begrenzung der psychoanalytischen
Behandlung
Teil III beginnt mit dem Beitrag von Luisa Perrone und Maurizio
Russo zum Thema »Nachdenken über Borderline-Pathologien. Der
perverse Kern und seine Rolle am Schnittpunkt zwischen
Selbstrepräsentation und Konfusion.« Unter Rekurs auf eine
Fallvignette veranschaulichen sie wesentliche Schwierigkeiten
psychoanalytischer Konzeptualisierungen bei der Behandlung von
Patient/innen »mit perversen Symptomen und/oder
Borderline-Störungen«. Ihr Anliegen ist es zu zeigen, »wie sehr die
perverse Organisation eng mit den primären Unbeständigkeiten der
Selbstkonstruktion und Genderidentität im Bezug zu Anderen
verbunden ist« (163) und es in der Behandlung daher der Erfahrung
einer Beziehung bedarf, »die nur vom Körper aus begonnen werden
kann.«(165)
Auch der Beitrag von Georgia Chalkia hat das Thema Übertragung und
Gegenübertragung im psychotherapeutischen Prozess im Fokus der
Betrachtung. In »Aufgegebene Hoffnung«, so die Überschrift,
beschreibt die Autorin nach einer kurzen und gehaltvollen
theoretischen Kontextualisierung ihrer Ausgangsüberlegungen die
»Entfaltung der Fantasie ‚aufgegebener Hoffnung‘«(169) in einer
psychoanalytischen Psychotherapie mit einer als »narzisstisch«
diagnostizierten Patientin. Im Zentrum der selbstkritischen
Rekonstruktionen ihrer Gegenübertragungen steht der Begriff der
»Unerwünschtheit«, den Chalkia gut begründet mit der Abwesenheit
einer väterlichen Vorstellung in Zusammenhang bringt.
Basierend auf vorgestelltes klinisches Material diskutiert Grigoris
Maniadakis die Bedeutung der »Erfahrung von Verlust und Trauer in
der Gegenübertragung« die – so seine These – dann auftritt, »wenn
der Therapeut mit Patienten arbeitet, welche seinen Interventionen
gegenüber ablehnend und/oder feindlich eingestellt sind.« (183)
Dabei betrachtet er die Bereitschaft und das Vermögen, den Verlust
der eigenen Fähigkeit (ohne Abspaltung) wahrzunehmen und zu
betrauern als notwendige Bedingung, um auf der Basis einer
hinreichend inneren Freiheit für diese Patient/innen hilfreiche
Interventionen zu (er)finden. Zudem verweist der Autor auf die
Chance, dass das Abtrauern von Omnipotenz seitens der/des
Therapeut/in einen homologen Verarbeitungsprozess von Trauer
hinsichtlich der destruktiven und omnipotenten Abwehrmechanismen
der/des Patient/in in Gang zu setzen vermag.
»Die Funktion von Grenzen: Permeabilität und Abgrenzung. Die
Kontaktschranke im psychoanalytischen Prozess« ist das Thema im
Beitrag von Martin Teising. Unter Bezug auf Freuds Konzept der
psychischen Grenze und seinem Begriff der Kontaktschranke stellt
der Autor aktuelle Vorstellungen der Grenzfunktion dar, erläutert
unterschiedliche Funktionsmodi der Kontaktschranke und
charakterisiert auf dieser Basis den psychoanalytischen Prozess
»als Transformationsarbeit an der Kontaktschranke, die von Patient
und Analytiker geschaffen und in jedem Moment verändert wird«
(201). Beispielhaft eröffnet er den Blick auf die Mikroebene
psychischer Grenzen zwischen Selbst und Objekt und zeigt auf, wie
ein »triangulärer Funktionsmodus« dazu beitragen kann, das
gemeinsame Geschehen zu alphabetisieren und damit verstehbar zu
machen.
Zu IV Ist psychoanalytische Forschung möglich?
Der Abschnitt IV schließt mit drei ‚Antworten‘ auf die Frage »Ist
psychoanalytische Forschung möglich?« den in diesem Sammelband
dargestellten Diskurs zum grenzüberschreitenden Wandel einer
psychoanalytischen Psychotherapie.
Michael B. Buchholz diskutiert entlang historischer und aktueller
Bezüge das Verhältnis von »Profession und empirischer Forschung –
Souveränität und Integration«. Dabei erläutert er, was die
Psychotherapieforschung zur Klärung ihres professionellen Tuns
beitragen kann (und was gerade nicht), kritisiert die Idee, man
könne die therapeutische Methode von dem ausführenden individuellen
Therapeuten abkoppeln, stellt die grundsätzliche Frage, was in der
Therapieforschung überhaupt untersucht wird und führt bestechende
Argumente – aber auch skurrile Ungereimtheiten – auf, die an der
Angemessenheit aktueller empirischer Forschung zweifeln lassen.
Unter Rekurs auf sozialwissenschaftliche Professionsforschung sowie
der Unterscheidung von implizitem und explizitem Wissen betont der
Autor die Differenz zwischen den Ebenen »Forschung« und »Praxis«,
deren Anerkennung eine konstruktive Annäherung allererst
ermöglicht.
Im Beitrag »Evidence based psychoanalysis? Zur Forschungs- und
Wissenschaftspolitik der Psychoanalyse« spürt Alf Gerlach den
grundlegenden Denkhaltungen der evidenzbasierten Medizin nach und
zeigt realitätsbewusst auf, in welcher Weise die Idee einer
‚Evidenzbasierung‘ für die Psychoanalyse – als Orientierung am
Zweifel – einerseits Anschluss an altbekannte Denkansätze aufweist
und andererseits längst in finanzierungsrelevanten Richtlinien für
psychoanalytische Behandlungen ihren Niederschlag gefunden haben
und weiterhin haben werden. Zugleich kritisiert der Autor die
eklatant einseitige politiköffentliche Forderung nach einer
Ausrichtung jeglicher Psychotherapieforschung am sogenannten
Goldstandard als Verkennung zentraler Zusammenhänge des
psychotherapeutischen Geschehens und macht auf die darin
eingelagerten Spannungen, Begrenzungen und Fallstricke sowohl für
die Psychotherapieforschung als auch für gesundheitspolitische
Entscheidungen aufmerksam.
»Psychosoziale Probleme bei Patienten mit chronischer Depression«
werden von Stephan Hau in den Blick genommen. Sein Beitrag zielt
zum Einen auf die Darstellung der Sichtweisen der betroffenen
Patient/innen und deren leidvollen Erfahrungen mit einer
chronischen Erkrankung, die die Wirkmächtigkeit von
psychotherapeutischer Behandlung begrenzen. Zum Anderen macht er
auf die Dringlichkeit weiterer interdisziplinärer
Psychotherapieforschung aufmerksam, die notwendig ist, um die
Faktoren, die zur Aufrechterhaltung der depressiven Zustände
beitragen, genauer verstehen zu können. Dabei hebt der Autor die
Begrenzungen von klassischen, randomisiert-kontrollierten
Studiendesigns hervor und fordert eine Intensivierung des
Nachdenkens, wie die Grenzen zwischen verschiedenen Behandlungs-
sowie Forschungsansätzen überschritten werden können.
Fazit
Der vorliegende Band »Grenzen überschreiten – Unterschiede
integrieren« verspricht einen elaborierten Diskursausschnitt über
einen gesellschaftlich und fachlich notwendigen, gewünschten
und/oder erzwungenen Wandel in der Theorie und Praxis
psychoanalytischer Psychotherapie und den Herausgeber/innen ist es
meines Erachtens gelungen dieses Versprechen einzulösen. Unter den
vier thematisch brisanten, klug gewählten Gegenstandsebenen
dokumentieren Anne-Marie Schlösser und Alf Gerlach eine
repräsentative Auswahl von Beiträgen, die – was nicht häufig in
Sammelbänden vorkommt – alle für sich lesenswert sind. Sie geben in
einer sprachlichen Klarheit und (selbst)kritischen Schärfe
differenzierte, materialreiche Einblick in Fallstricke, Leerstellen
und Widersprüchlichkeiten aber auch Entwicklungspotenziale der
eigenen psychotherapeutischen Behandlungs- wie Forschungspraxis.
Wem ist nun das Buch zu empfehlen? In erster Linie all jenen
Mitgliedern der psychoanalytischen und psychodynamischen Community,
die sich durch gesellschafts- und behandlungskritische Themen
herausgefordert fühlen. Und da der Sammelband vielfältiges,
aktuelles forschungs- und praxisbezogenes Wissen vermittelt, werden
die Aufsätze interessierte Laien ansprechen, die allerdings bereits
über einige theoretische Vorkenntnisse verfügen sollten.
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