Rezension zu Die Borderlinestörung gesprächs- und erzählanalytisch betrachtet (PDF-E-Book)
Punktum. Verbandszeitschrift des Schweizer Berufsverbandes für Angewandte Psychologie, Juni 2015
Rezension von Catherine Herriger
Sprachbasierte Typologisierung
Hätte ich besser auf den Untertitel (»Eine linguistisch-empirische
Studie«) geachtet, dann hätte ich mir die spontan übernommene
Buchrezension noch mal gut überlegt und aufgrund der angedeuteten
wissenschaftlichen Dichte wahrscheinlich abgelehnt. So aber sah ich
nur den Begriff Borderlinestörung – und fand die Thematik,
platziert im Kontext einer gesprächs- und erzählanalytischen
Betrachtung, schlichtweg spannend.
Als ich das mir zugesandte Buch in Händen hielt und darin
blätterte, erkannte ich den Schwierigkeitsgrad. De facto ist es
eine höchst komplexe Arbeit, die von der Philosophischen Fakultät
der Universität Zürich als Dissertation der beiden Autorinnen,
Lina Arboleda und Vania Zschokke, angenommen wurde. Mit anderen
Worten: Ich hatte voreilig zugesagt, eine bereits mehr als
sachkundig geprüfte und anerkannte Studie, die 2014 auch in
Buchform erschienen ist, zu rezensieren, sprich: kritisch zu
besprechen und inhaltlich zu bewerten. Was im vorliegenden Fall nur
schon in fachlicher Hinsicht ein Unding wäre, denn sicher waren
die verantwortlich zeichnenden Doktoreltern (Prof. Brigitte Boothe
und Dr. Marc Walter) in ihrer Beurteilung alles andere als
nachlässig.
Nun, das vorliegende Buch ist in seiner fachlichen Dichte – wie
erwartet – schwer lesbar und entsprechend zeitintensiv. Eine
gewisse Portion therapeutisches Wissen und Neugier ist schon mal
vorausgesetzt. Wer sich aber für Borderlinestörungen interessiert
bzw. auch mit Borderline-PatientInnen arbeitet, erhält mit diesem
Werk zunächst eine breite Informationsbasis zur
psychiatrisch-diagnostischen Klassifikation der BPS wie auch zum
bisherigen Stand der linguistischen Psychotherapieforschung.
Offenbar wurde bislang das Sprach- und das damit verbundene
Beziehungsgeschehen von BPS-Patienten »in seinem eigenen Recht und
mit explorativem, unvoreingenommenem Blick« nur wenig untersucht.
Das heisst, dass für diesen Bereich noch keine empirischen
Forschungsergebnisse vorliegen. Diese Lücke füllt nun die
aufwendige Studie von Arboleda und Zschokke mit dem Fokus auf die
inhaltliche und interaktive sprachliche Qualität von
Borderline-Patientinnen.
Mittels der Erzählanalyse JAKOB (www.phil.uzh.ch) und der
ethnografischen Gesprächsanalyse nach Arnulf Deppermann wurden von
den Autorinnen insgesamt 15 transkribierte Psychotherapiesitzungen
mit BPS-Patientinnen systematisch untersucht. Dabei wurden
ausschliesslich der Sitzungsanfang und deren Ende »als
exemplarische Szenen interaktiver Beziehungsgestaltung und als
besonders vulnerabler Moment der Beziehungsaufnahme und -lösung«
minutiös aufgeschlüsselt.
Bei aller Unterschiedlichkeit der untersuchten Fälle von
Borderlinestörungen schälten sich aufgrund des Sprachgeschehens
und der Beziehungsgestaltung drei erzählanalytische Typen heraus:
»Prekäre Verständigung«, »Unaussprechliches« und
»Mitteilungsversuch«. Ergänzt wurde die Analyse jeweils durch die
Selbsteinschätzung der jeweiligen Patientin durch Ausfüllen eines
Fragebogens und durch Einbezug von psychotherapeutisch empirischem
und statistischem Material.
Die Namen für die drei herausgearbeiteten Gruppen weisen auf die
jeweiligen narrativen Ansätze hin, die dieser sprachbasierten
Typologisierung zugrunde liegen. Die akribisch beschriebenen
Fallbeispiele lesen sich aufschluss- und lehrreich. Dabei wird die
Heterogenität des BP-Störungsbildes von den Autorinnen nicht in
Frage gestellt, wohl aber erarbeiteten sie mit ihren eingehenden,
jahrelangen Untersuchungen eine überzeugende Teil-Differenzierung,
die in ihrer Methodik eventuell individuell-spezifischere Diagnosen
und Therapieindikationen ermöglichen könnten. Und damit
therapeutische Erfolge.