Rezension zu Dieses unglaubliche Bedürfnis zu glauben
Zeitzeichen, 16. Jahrgang, Juni 2015
Rezension von Klaas Huizing
Sublimierung. Über das Bedürfnis zu glauben
Wer im Eigennamen Kristeva die Bedeutung »vom Kreuz« mit sich
führt, neigt offenbar auch als Psychoanalytikerin und
Literaturtheoretikerin nicht einfältig dazu, die Religion mit Freud
vorschnell als Illusion abzutun, vielmehr schockiert Kristeva mit
sichtbarer Freude alle Hardliner mit der Feststellung, das
Christentum sei ein veritabler Wegbereiter des neuen Humanismus
gewesen. Mit Freud, der den Stil dieser Essays durch seine müde
gesiegten Großbegriffe knechtet, teilt Kristeva eine
Grundüberzeugung, nämlich »das menschliche Bedürfnis zu glauben«
zum Gegenstand der Erkenntnis machen zu können, freilich so, dass
der skizzierte neue Humanismus die Transzendenz in der Immanenz
verortet: Das Universum der Seele beheimatet gleichermaßen Himmel
und Hölle.
Plausibilisieren kann Kristeva ihre Sicht der Dinge am Beispiel des
Adoleszenten, der sein Leben auf Idealität hin ausrichtet und nicht
glauben mag, dass dieser Andere (vielleicht) nicht existiert.
Aufgabe der Psychoanalyse ist es dann, dieses »Identitätssyndrom«
zu sublimieren, also in die Kreativität zu verschieben. Für diese
Arbeit scheint ein Blick auf die Geschichte des Christentums
hilfreich. In der Sprache Kristevas hört sich das so an: Das
Christentum, wenn es »jene verzweifelte Orientierung (jene version)
hin zum idealen Vater erkennt, die das psychische Leiden ausmacht
und die jedes andere Leiden verschlimmert«, versucht, »diese
père-version in Kreativität, in Sublimierung, in Lebenskunst«
umzuwandeln. Wahrheitszeugin für diese Sublimierung ist Teresa von
Ávila, die den Schmerz in Ekstase transformiert. Der dann
einsetzende Schreibprozess dient der Erhellung der gemachten
visionären Erfahrung, wird aber zugleich durch Ávilas Neugründung
des Karmel zu einem politischen Akt.
Kristeva macht zwei Gemeinsamkeiten der Psychoanalyse mit dem
Christentum aus: eine »Anerkennung des Leidens als integraler
Bestandteil des sprechenden Wesens« und die Entsakralisierung und
Zähmung des Leidens durch die »Geste der Darstellung«. Literatur
und Psychoanalyse werden so zu wahren Erben des Christentums, geht
es dieser Julia vom Kreuz doch um nichts weniger als um eine
»Wieder-Geburt«. Kristeva scheut sich dann auch nicht, die
analytische Arbeit sprachspielend als wechselseitiges Geschenk der
Vergebung, als par-don zu schildern.
Kristevas Ansatz überzeugt dann, wenn sie als Anwältin der
Kreativität und damit der Freiheit auftritt, einen Gedanken, den
sie sich bei einer ihrer Heldinnen ausleiht, bei Hannah Arendt, die
bekanntlich jede Geburt als Neuanfang deutet, den Kristeva aber
auch in der Metaphysik von Duns Scotus vorgedacht glaubt. Mit
dieser Betonung der radikalen Individualität will sie jede falsche
Sehnsucht des »ähnlich zu werden wie...« hinter sich lassen.
Kristeva feiert die Weiblichkeit und verbeugt sich nochmals vor dem
Christentum, die die Schönheit als »gänzlich sichtbar gewordene
Seele« im Madonnenbild entdeckt hat und von den Malern bis zum
Aktbild vorangetrieben wurde, aber diese Feier des Weiblichen und
Mütterlichen hat nichts mehr mit der Selbstbestätigung eines
kämpferischen Feminismus gemein – Kristeva möchte lieber nicht als
Feministin, sondern als Scotistin, also als Anhängerin von Duns
Scotus wahrgenommen werden.
Das fundamentale Verlangen nach Sinn verkürzt Kristeva allerdings,
wenn sie die Metaphysik vorschnell berentet, denn der Philosoph
Volker Gerhardt hat jüngst nochmals in einer längeren Studie
gezeigt, dass »Der Sinn des Sinns« ohne das transzendente Göttliche
nicht hinreichend gedacht werden kann. Kristeva, erzogen im
christlich-orthodoxen Glauben ihrer bulgarischen Heimat, verbleibt
in ihrer Deutung des Christentums zudem in einem extrem engen und
antiquierten Sprachspiel, das von Leiden, Sünde und Opfer geprägt
ist, übersieht dabei völlig die literarischen Qualitäten biblischer
Texte, vor allem die veritablen Minidramen, vulgo: Gleichnisse, die
Jesus erzählt hat und die gleichermaßen Krisen sublimieren und
künftig verhindern können. Seelsorge kann mit diesen Narrationen
helfend (und kostengünstig) arbeiten. Das freundliche
Übernahmeangebot des Christentums durch die Psychoanalyse, die bei
Kristeva alle vulgäratheistischen Spitzen abgeschliffen hat, darf
man ebenso freundlich ablehnen. Pardon.