Rezension zu Die Dunkle Materie des Wissens
Analytische Psychologie Nr. 182, 4/2015
Rezension von Stefan Wolf
Je mehr man liest, desto ausgetüftelter werden die eigenen
Leseerwartungen und -wünsche. Schon seit Langem hoffe ich, einmal
auf ein Buch über »Die Grenzen des Wissbaren« zu stoßen. Darin
müsste ein Autor naturwissenschaftlich wie philosophisch
informiert die Horizontlinie abschreiten, die das Terrain des
Wissens und des noch Unerforschten von dem des Unerforschbaren
trennt. Ideal wäre es, er ginge dabei nüchtern wie ein Kartograph
vor, ohne spekulativen Eifer, stattdessen mit einem diskreten
Vergnügen an Paradoxien und mit feinem Gespür für das
Abgründige gewisser Tatsachen. Jedenfalls sollte er mit der Hybris
naturwissenschaftlicher Methodologie aufräumen. Als ich auf den
Klappentext zu dem Titel »Die Dunkle Materie des Wissens. Über
Leerstellen wissenschaftlicher Erkenntnis« von Uwe Hinrichs stieß,
schien nun dieser Wunsch überraschend in Erfüllung zu gehen.
Überraschend auch wegen des Fundortes, nämlich im Psychosozial-
Verlag. Dort war mit einem solchen Titel eher nicht zu rechnen
gewesen. Doch schon ein Blick in das Inhaltsverzeichnis verriet,
dass das Buch ins Programm passt, denn wo es um die »Dunkle Materie
des Wissen« geht, muss auch von der Psychologie des Unbewussten die
Rede sein. Die Ankündigung im Vorwort, dass es um die aktuelle
»Kränkung des Wissens«, die Konfrontation der Wissenschaft mit dem
Unerforschlichen und Unerforschbaren gehen solle, verhieß
jedenfalls einen Treffer. Überall stoße die Forschung heute in
Bereiche vor, in denen ihr nichts anderes übrig bleibe, als
»Unschärfe«, »Negativität«, »Leerstellen« und dergleichen zu
konstatieren und sie mit Metaphern des »Dunklen« zu belegen, heißt
es da. Die »Dunkle Materie« dient dem Autor mithin als Leitmetapher
seiner Diagnose der aktuellen Kränkung naturwissenschaftlicher
Erkenntniszuversicht.
Der Begriff stammt aus der Astronomie und geht auf die Beobachtung
zurück, dass die Galaxien gemäß der bekannten Gravitationsgesetze
nicht die uns vertraute Form haben dürften, sondern eigentlich
»zerfransen« müssten, weil die vorhandene sichtbare Materie nicht
genügend Masse aufweist, um ihre Spiralgestalt zu erklären. Man
schließt deshalb auf die Existenz dunkler, nicht sichtbarer
Materie, für die es bislang verschiedene Hypothesen, aber keinen
Nachweis gibt. Die Leerstelle in unserem Weltbild – dasjenige, das
wirkt, selbst aber nicht dingfest zu machen ist – ist also der
Gegenstand des Buches. Der Autor unternimmt nun den Versuch, diese
Abgründe des Nichtwissens in insgesamt zehn Einzelwissenschaften
zu identifizieren. Der Parcours beginnt bei der Astronomie, führt
über die Genetik, die Ökonomie, Sprachwissenschaft,
Literaturwissenschaft, Psychoanalyse, Philosophie, Religion und
Kunstwissenschaft zur Kulturwissenschaft. Man ist erfreut über den
universalistischen Anspruch und zugleich bang, ob er von einem
einzelnen Autor (der von Hause aus Sprachwissenschaftler ist)
erfüllt werden kann.
Was ist zu erfahren? Kurz gesagt, dass in all diesen
Fachdisziplinen, wie in der Astronomie, das bekannte Helle einem
sehr viel mächtigeren Dunkel gegenübersteht, das, und dies ist
vielleicht der Fortschritt zu früheren Zeiten, in seinen
Dimensionen inzwischen immerhin erahnbar ist. In der Astrophysik
geht man davon aus, dass die Dunkle Materie (resp. Energie) etwa 95
% des Universums ausmache, wir also überhaupt nur 5 % des
Vorhandenen beobachten. Eine ganz ähnliche Relation findet sich in
der Genetik. Im »Human Genome Project« hatte man damit gerechnet,
etwa 100.000 menschliche Gene zu identifizieren, entdeckte aber nur
ca. 22.000 (etwas weniger als bei einem Gabelblattgewächs, einer
Pflanze). Darüber hinaus stieß man auf »einige Hunderttausend«
Gene (»dark genome«), die keine Proteine codieren, sondern
vermutlich für die Steuerung der anderen Gene verantwortlich sind.
Ursprünglich meinte man, es mit »junk-DNA«, mit Schrott, zu tun zu
haben, heute vermutet man in ihr die entscheidende Steuerzentrale,
deren Funktionsweise allerdings noch weitgehend unbekannt ist. In
der Psychologie herrschen ganz ähnliche Verhältnisse. Hier ist es
die Entdeckung des Unbewussten, die den Horizont zum »dunklen
Kontinent« hin geöffnet hat. Hinrichs gibt einen knappen Abriss
der Psychoanalyse und würdigt dabei ausführlich die Erweiterungen
der Konzeptualisierung des Unbewussten ins Kollektive und
Archetypische durch C. G. Jung. Ein Seitenblick fällt auf die
Kognitionswissenschaft und die Forschungen zur unbewussten
Informationsverarbeitung. Bietet dieses Kapitel für den
psychoanalytischen Leser naturgemäß wenig Neues, so ist er umso
gespannter auf die weiteren Themenfelder. Und hier sind es
insbesondere die Kapitel zur Literatur- und Kunstwissenschaft, die
anregen und die Nachbarschaft der beiden Wissensfelder vor Augen
führen. Die Exkurse zur Rezeptionsästhetik, zum »impliziten
Leser« und »impliziten Autor« belegen, wie sich moderne
Literaturwissenschaft und Psychoanalyse aufeinander zu bewegen und
im Dialog stehen.
Weniger konsistent erscheinen dagegen die Abschnitte zu
Philosophie, Religion und Kulturwissenschaft. Der »dunkle
Kontinent«, den es auch in ihnen geben mag, wird dort nur
stichwortartig aufgerufen, was sicherlich am schieren Umfang und
der Komplexität der Denkströmungen liegt, die einzubeziehen
wären. Der Versuch einer Phänomenologie des »Dunklen Wissens«
stößt hier an seine Grenzen und ist wohl von einem Einzelnen auch
gar nicht zu bewältigen. Zudem macht sich eine gewisse
Verschwommenheit des Konzepts nachteilig bemerkbar. Das »Dunkle«
wird in den verschiedenen Forschungsfeldern schnell zu einem
Sammelbecken für vielerlei: für das Verbotene, Tabuierte,
Verschwiegene, Unbekannte, Fremde, Unerforschte und dergleichen
mehr. Die Metapher des Dunklen, zuweilen erhellend, wie z. B. in
Astronomie oder Literaturwissenschaft, wirkt manchmal selbst
verdunkelnd. Die ursprünglich erhoffte Differenzierung zwischen
dem Unerforschten und dem Unerforschbaren erweist sich
schlussendlich nicht als das Hauptanliegen des Autors. Das Buch ist
also noch nicht das gesuchte, aber eine erste Annäherung an das
Thema. Es bietet einen Streifzug durch die Welt des
Nichtexplizierbaren, das den Messungen zwar regelmäßig entwischt,
der Wahrnehmung aber nicht entgeht. Es demonstriert die
Universalität dieser Phänomene, weist auf die Grenzen eines
positivistischen Wissenschaftsideals hin und schärft so den Sinn
dafür, dass (in den Worten eines zitierten Physikers) »die gesamte
sichtbare Welt nichts als ein Nebenschauplatz ist«.