Rezension zu Handbuch Mentalisieren
Analytische Kinder- und Jugendlichen Psychotherapie Nr. 186, 4/2015
Rezension von Annegret Wittenberger
Endlich mal wieder ein richtiges Buch: dick, schwer, mit festem
glänzendem Einband. Ich nehme es mit Vergnügen in die Hand. Und
der Inhalt? Ein Kompendium von Studien, Programmen, Messungen,
Tabellen, Übungen, Beurteilungen, Strategien, Skalen,
Behandlungsplänen, Interventionen, Zielen, Kontrollen, Manualen
... So viel »Gewusstes« (bei einer proklamierten »Haltung des
Nichtwissens«!) erschlägt mich. Wenn ich mich beim Lesen
mentalisiere, stelle ich fest: Ich langweile mich über weite
Strecken, werde müde, spüre Fluchttendenzen. Aber immer wieder,
besonders in den Fallbeispielen, wird für mich auch Lebendigkeit,
Wärme, Authentizität und gelegentlich Humor spürbar.
Ich war neugierig auf dieses Buch, weil ich eigentlich nie
verstanden habe, weshalb Psychoanalytiker nach Bions
Containing-Contained-Konzept, das seelisches Wachstum durch Erwerb
der Empathiefähigkeit in den Erfahrungen der frühen
Mutter-Kind-Interaktion so eindrücklich darstellt, noch ein
weiteres der Mentalisierung als Fähigkeit, eigene und fremde
Psychen als Psychen zu begreifen, brauchen sollten. Um es
vorwegzunehmen: Dieses Buch hat mir meine Frage auch nicht
beantwortet. Wo die mentalisierungsbasierte Therapie (MBT)
geschildert wird, unterscheidet sie sich kaum von der Technik der
Psychoanalyse. Ein beeindruckendes Fallbeispiel im Kapitel über
Trauma ist Psychoanalyse pur. Denn gerade die Psychoanalyse ist ja
immer bestrebt, sich auf die jeweiligen Probleme und Besonderheiten
des Patienten einzustellen, was bedeutet, dass der Analytiker mit
Borderline-Patienten eher stützend im Hier und Jetzt arbeitet als
mit auf das Unbewusste zielenden Deutungen. Aber Letzteres
kritisieren die Autoren immer wieder und schaffen so einen
scheinbaren Gegensatz zur Psychoanalyse, der real nicht vorhanden
ist. Wenn die praktische Arbeit in der Kinderpsychotherapie und mit
den Eltern beschrieben wird, habe ich den Eindruck, Mentalisierung
sei lediglich ein neues Wort für das, was wir schon immer tun –
vielleicht mit dem Unterschied, dass wir die unbewussten
Dimensionen unserer Patienten und unserer eigenen Persönlichkeit
mehr bedenken, ohne jedoch, wie hier den Psychoanalytikern
unterstellt wird, ständig aufdeckend zu deuten. Diese eingeengte
Perspektive verstellt den Blick auf das kreative Potenzial der
Psychoanalyse. Fragwürdig erscheint mir auch die relativ schmale
Ausbildung zum Mentalisierungstherapeuten – jedenfalls wird eine
eigene Analyse nirgends erwähnt, lediglich die Notwendigkeit von
Supervision. Wenn der Mentalisierungstherapeut die Fähigkeit
erworben haben soll, mentale Zustände zu reflektieren, und wenn
schwer gestörte Patienten die Schwachstellen ihres Therapeuten
triggern – das heißt doch: seine eigenen unbewussten Konflikte bzw.
seinen psychotischen Kern anrühren –, wie soll der Therapeut damit
umgehen können, ohne Zugang zum Unbewussten durch eine eigene
Analyse gewonnen zu haben?
Der Wert der MBT scheint mir u. a. darin zu liegen, dass dieser
Ansatz, der Erkenntnisse aus Neurobiologie,
Entwicklungspsychologie, Psychoanalyse und Psychotherapieforschung
verbindet und Einflüsse aus verschiedenen Psychotherapierichtungen
aufnimmt, helfen könnte – und dies vielleicht tatsächlich in
England und Amerika schon getan hat –, der Psychoanalyse den
Bereich der Sozialarbeit (in der Nachfolge von August Aichhorn und
Ernst Federn) zurückzugewinnen, den sie womöglich im Bemühen,
sich auf die reine Lehre zu reduzieren, leichtfertig der
Verhaltenstherapie und anderen behavioristisch-deskriptiven
Verfahren überlassen hat. Darüber hinaus enthält das Buch eine
Fülle von Anregungen für praktizierende Kliniker, besonders
solche, die mit schwer gestörten Patienten
(Borderline-Persönlichkeiten, traumatisierten Patienten) arbeiten,
sowie für die angewandte Psychoanalyse, z. B. in
Erziehungsberatungsstellen, hier etwa in der Beratung hoch
strittiger getrennter Eltern, und in der Gewaltprävention an
Schulen.
Die Charakterisierung der MBT-Therapeutenpersönlichkeit als aktiv,
responsiv, handlungsorientiert, abenteuerlustig, zuverlässig,
gutgelaunt und mutig bringt mich auf die Idee, dass vielleicht auch
Psychotherapeuten unterschiedliche Techniken brauchen – nicht nur
Patienten – entsprechend ihrer eigenen spezifischen Struktur, die
ja wiederum die Struktur des jeweiligen psychoanalytischen Paares
mitbestimmt. So wie vermutlich Ferenczi mit seiner aktiven Therapie
auch einen anderen Analytikerstil praktizierte als Freud, ohne dass
man annehmen müsste, einer von beiden sei für seine Patienten
weniger hilfreich gewesen als der andere. Wenn mir in Beziehung zu
meinem Patienten eine dezidiert mentalisierende Technik mehr liegt
als eine generell raumschaffende Haltung (was sich nicht
ausschließen muss!) – was ist dagegen einzuwenden? Eine andere
Geschichte des analytischen Paares heißt nicht, dass sie schlechter
oder besser sein muss.
Fazit: Als weitere Theorie für Analytiker, die Freude und
Interesse am analytischen Denken haben, mit dessen Hilfe sie die
eigene innere Welt und die ihrer Patienten zu dechiffrieren
versuchen, erscheint mir die Mentalisierung wenig ergiebig, als
Anregung für die analytische Praxis durchaus wertvoll und
sinnvoll.