Rezension zu Handbuch Mentalisieren

Zeitschrift für Individualpsychologie 3/15

Rezension von Josef Brockmann

Das Mentalisierungskonzept besitzt seit einigen Jahren eine hohe Attraktivität. Psychotherapeuten, Forscher, Organisatoren von Kongressen/Tagungen, aber auch Fernsehproduzenten haben das Thema für sich und ihr Klientel entdeckt. Neu ist »Mentalisieren« – die Fähigkeit den anderen von innen und sich von außen zu sehen – nicht. Neu ist die Verbindung mit der Bindungstheorie und dem Konzept des »epistemischen Vertrauens«, die vor allem auf den Psychoanalytiker P. Fonagy zurückgeht.

Das von A. Bateman und P. Fonagy entwickelte Konzept der mentalisierungsbasierten Therapie (MBT) wurde in Verbindung mit der Behandlung von Borderline Persönlichkeitsstörungen in London entwickelt. Die Autoren erkannten in der Folge, dass ihre Erkenntnisse und die damit gewonnenen klinischen Erfahrungen, die schwerpunktmäßig in Behandlungszentren in London (Anna Freud Institut) und in den USA (Menninger Klinik Texas) gemacht wurden, auch für die Behandlung bei anderen schweren psychischen Störungen nützlich sind. Sie nahmen an, dass »... jeder, der auf dem Sektor der psychischen Gesundheitsvorsorge arbeitet, von einem gründlichen Verständnis des Mentalisierens und einiger seiner klinischen Anwendungsmöglichkeiten profitieren wird«. Die Autoren – die als Wissenschaftler sonst sehr vorsichtig formulieren – glauben, dass das Mentalisierungskonzept einen grundlegenden Beitrag zur Aufklärung der Wirksamkeit von Psychotherapie kann: »Wir behaupten kühn, dass das Mentalisieren – die aufmerksame Beachtung und Reflexion des eigenen psychischen Zustands und der psychischen Verfassung anderer Menschen – der grundlegende gemeinsame Faktor psychotherapeutischer Behandlung ist [...]« und fahren fort: »Wir räumen ein, dass wir mit dieser These weniger auf etwas Neues abheben als vielmehr auf das, was wichtig ist.« (Allen, Fonagy u. Bateman engl . 2008 / 2011)

Mittlerweile gibt es ein internationales Netzwerk von Forschern, das von P. Fonagy zuweilen liebevoll als »Mentalisierungs-Mafia« bezeichnet wird. Auch Therapeuten haben ein wachsendes Interesse an diesem Konzept, deren Wurzeln nach dem Verständnis der Autoren in der Psychoanalyse liegen. Trotz der großen Resonanz und der Evidenzbasierung durch mehrere RCT-Studien darf man aber nicht verkennen, dass Mentalisierungsbasierte Therapie (MBT) international gesehen ein kleines Blümchen zwischen den großen und schnell wachsenden Pflanzen der behavioralen Therapie ist, z.B. der dialektisch behavioralen Therapie (DBT) von M. Linehan. Da kommt das schwergewichtige Buch vielleicht gerade recht ...

Das Buch enthält im ersten Teil Beiträge zur klinischen Praxis und im zweiten Teil Beiträge zu spezifischen Störungsbildern. Zur klinischen Praxis gehören eine Einführung und Übersicht zum Mentalisierungskonzept, Kapitel zur Beurteilung der Mentalisierungsfähigkeit, zum Grundmodell in der Einzelpsychotherapie, zur Mentalisierungsorientierten psychoanalytischen Kinderpsychotherapie und weitere Kapitel. Zu den Kapiteln über störungsspezifische Behandlungen gehören z. B. Beiträge zur Borderline-Persönlichkeitsstörung, zur Depression, zum Trauma, zu Risikomüttern mit Babys und Kleinkindern. A. Bateman und P. Fonagy tragen zu mehreren Kapiteln bei, aber bei den meisten Beiträgen haben Arbeitsgruppen die Autorenschaft.

Das Buch ist an der Praxis orientiert, folgt aber den Maßgaben wissenschaftlicher und empirischer Fundierung, auf die die einzelnen Autoren sich beziehen. Das macht das Lesen manchem nicht ganz einfach, ist aber der unvermeidliche Preis für die Erarbeitung solider wissenschaftlicher und praktischer Kompetenzen. Anders ausgedrückt: Man muss Wissenschaft halt mögen.

Mittlerweile gibt es von den Autoren J. Allen, A. Bateman, P. Fonagy, E. Jurist, M. Target und anderen eine Reihe von Büchern, die auch ins Deutsche übersetzt wurden. Ebenso gibt es von deutschen Autoren bereits einige Bücher, die sich mit dem Konzept praktisch und theoretisch auseinandersetzen (z.B. T. Bolm, H. Kirsch, U. Schultz-Venrath). Das jetzt erschienene Buch von A. Bateman u. P. Fonagy ist dazu vielleicht eine schwergewichtige Konkurrenz, aber auf jeden Fall eine Ergänzung. Es ist nicht einfach für den Einsteiger einen Überblick zu erhalten, selten wird wohl jemand das Buch von vorne bis hinten lesen. Es eignet sich hervorragend, um den aktuellen Stand der Arbeit an und mit dem Mentalisierungskonzept nachzuschlagen und sich darin zu vertiefen.

Mein Fazit: Das Buch gibt einen Überblick über Ansätze mentalisierungsorientierter Behandlungen, die über mentalisierungsbasierte Therapie bei Borderline Störungen (MBT) hinausgehen. Über die Tragfähigkeit des Konzeptes bei anderen Störungsbildern werden die zukünftigen Ergebnisse der Forschung sowie die aus praktischen klinischen Erfahrungen berichtenden Bücher entscheiden. Wenn man nicht wüsste, dass die Entwicklung des Mentalisierungskonzeptes und seine therapeutische Praxis bei der Vielzahl der wissenschaftlich arbeitenden internationalen Autoren schnell voranschreiten werden, könnte man das Buch als die »Bibel des Mentalisierungskonzeptes« bezeichnen.

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