Rezension zu Trieb und Tradition im Jugendalter

Schweizer Archiv für Neurologie und Psychiatrie 1/2016 (Januar)

Rezension von Thomas von Salis

Siegfried Bernfeld
Trieb und Tradition im Jugendalter

Im Nachwort zu diesem 7. Band der im Psychosozial-Verlag erschienenen Bernfeld-Ausgabe schreibt Ulrich Herrmann, dies sei das einzige »gelehrte« Buch von Bernfeld. Sein Anliegen sei gewesen, nicht »einfach Tagebücher zu veröffentlichen und entwicklungspsychologisch zu interpretieren, sondern diese Texte kulturgeschichtlich einzuordnen und als eine (auch) altersspezifische kulturelle Praxis zu interpretieren«.
Gerade die Tagebuchform ermöglicht, so Bernfelds Befund, sozialpsychologische Forschung zu betreiben, und er stösst dabei auf das Problem, dass kulturelle Formen wie Briefe, Tagebücher oder Sammlungen von Andenken (»Reliquien«) nicht beliebig gewählt werden, sondern je nach dem (Trieb-)Bedürfnis und der spezifischen Sozialisation (»Tradition«), in der der Autor sich entwickelt, gefunden werden. Die Form kann nicht mit irgendeinem Inhalt gefüllt werden, sondern ist schon dem, was notiert oder ausgedrückt oder bewältigt werden will, eigen.

Bernfeld vertieft sich in die Fragen der Form, die dem jugendlichen Trieb einen Weg öffnet, so dass er sich in den kulturellen Produktionen wie den Tagebüchern, den Briefen und den »Reliquiarien« niederschlagen kann.

Das Buch zeigt dem Leser Bernfeld als originellen psychoanalytischen Sozialpsychologen. Seine profunde Kenntnis der Psychologie der Jugendlichen äussert sich in noch heute aktuellen und erhellenden Ausführungen, zu den Begriffen Trieb, Tradition, Gewohnheit, Verbot und Überich (Seiten 160 bis 164), wie folgendes Zitat illustrieren mag, das eine Schnittstelle des Individuell-Psychologischen mit dem Sozialen und Traditionellen aufzeigt: »Die Formschemata, die aus Motiven der Folgsamkeit oder Identifizierung übernommen wurden oder, aus früheren Übernahmen oder aus Triebbefriedigungen stammend, an tradierte Normen angeglichen wurden, werden so zu bedeutsamen Instanzen in der Persönlichkeit: sie stärken das Ich für seine Bewältigungsaufgaben; sie geben ihm gewissermassen die gesammelte Macht der ganzen Gesellschaft, die in den Formen verdichtet ist.« Hier ist die »Kultur« der Gesellschaft für einmal nicht Hindernis, sondern ein förderndes Element für die Entwicklung der Persönlichkeit. Die Freud’sche »Kompromissbildung« hat nach wie vor ihre Gültigkeit, aber hervorgehoben wird hier doch ein positiver Faktor der gesellschaftlichen Macht.

Bernfeld bringt schöne Beispiele aus der eigenen Sammlung und bezieht sich auch andere Autoren, beispielsweise Charlotte Bühler, die zum Thema gearbeitet haben. Eindrücklich sind alle, besonders berührend ist das Brieftagebuch eines Jugendlichen, der bei einem unangenehmen Meister eine Schmied-lehre machen muss und sich von den Eltern im Stich gelassen oder gar verstossen fühlt, kurios mutet das Küsstagebuch eines im Übrigen angepassten Mädchens an. Es ist erstaunlich, wie beharrlich der Brauch des Tagebuchschreibens sich gehalten hat. Aber man muss sich doch fragen, ob heute mit den neuen Medien in kurzer Zeit eine tiefgreifende Veränderung stattfindet. Eine Kuratorin einer Tagebuchausstellung fand kürzlich auch eine sehr spezielle Form der Aufbewahrung/Vernichtung von »Aufschrieben« (der Terminus ist von Bernfeld geprägt): Tagebuchnotizen eines Grossvaters wurden auf Holzscheiten gefunden – noch nicht verbrannten! Die Kuratorin ist sich aus heutiger Sicht mit Bernfeld darin einig, dass mit der kulturell-zivilisatorischen raschen Veränderung die Gebräuche wie das Tagebuchschreiben verloren gehen könnten. Dem gegenüber stellt sie fest, dass auch heute noch das Schreiben auf Papier ganz und gar nicht untergeht und einen eigenen Reiz bewahrt.

Druckfehler hat es wenige – die Texte konnten offenbar von guten Quellen gescannt werden –, aber zum Beispiel die Referenz »Erdheim 1928« Seite 228 kann nicht stimmen; damals war Erdheim – ein profunder Kenner Bernfelds – noch gar nicht auf der Welt! Und »Bahrth« steht auf Seite 241 an Stelle von Barth. Daniel Barth ist an der Herausgabe der Bernfeld-Reihe beteiligt und empfindet diesen Band 7 als »eines der modernsten und zugleich am schwierigsten zu verstehenden Bücher von Bernfeld« (persönliche Mitteilung).

Bernfelds Buch zu empfehlen ist wohl angesichts der Berühmtheit, die er im Gefolge der 68er Bewegung wegen seines Engagements und seiner Schriften zu Psyche und Gesellschaft erlangt hat, kaum noch nötig. Leicht zu lesen ist es wie eben erwähnt nicht auf Anhieb, aber es lohnt die Anstrengung, sich darein zu vertiefen.

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