Rezension zu Migration und Trauma

Lernende Schule. Für die Praxis pädagogischer Schulentwicklung Heft 71, 18. Jahrgang, 2015

Rezension von Petra Druschky

Notwendigkeit eines Paradigmenwechsels

Das vorliegende Buch ist die Dissertation des Autors, die er 2011 an der Humboldt-Universität zu Berlin erfolgreich verteidigt hat.

Neben der theoretischen Klärung der zentralen Begriffe Migration und Trauma (Kapitel 2) ist es ein Schwerpunkt des Buches, auf über hundert Seiten sehr verschiedene Einzelfälle zwangsmigrierter Jugendlicher zu dokumentieren und zu analysieren, um besser zu verstehen, welche Auswirkungen das subjektive Erleben dieser Jugendlichen auf ihr Lernen und Leben hat (Kapitel 5 und 6).

Auch wenn diese Einzelfalldarstellungen nicht verallgemeinerbar sind, »gibt es einige wesentliche Gemeinsamkeiten, die Annahmen über typisches Erleben Jugendlicher im Kontext von Zwangsmigration zulassen« (S. 18). In der Folge entwirft der Autor eine Rahmenkonzeption mit pädagogischen Überlegungen zur individuellen Förderung zwangsmigrierter Jugendlicher (Kapitel 7), die allerdings nicht den Schwerpunkt der Arbeit darstellt.

Um es vorwegzunehmen: Die Bearbeitung des Themas erfolgt sehr tiefgründig, kenntnisreich, differenziert und sensibel. Ich habe das Buch mit großem persönlichen Gewinn gelesen: einem besseren Verstehen von Verhaltensweisen und Gefühlen zwangsmigrierter Jugendlicher in Bezug auf ihr Herkunftsland, ihre familiären Beziehungen, die »Brüche« und »Kerben« in ihrem Leben, die von der unerträglichen Situation n Herkunftsland über die Flucht bis in die Gegenwart reichen und durch die Asylpolitik Deutschlands für viele weiter verstärkt werden, die monate- oder gar jahrelang einen unsicheren Aufenthaltsstatus erdulden müssen.

Es ist dem Autor zu danken, dass er in Interviews diesen Fragen sensibel nachgegangen ist. Insbesondere die Einzelfalldarstellungen von Ceylan, Farid und anderen Jugendlichen sowie deren Interpretation, die sowohl in einer Forschendengruppe als auch in Supervisionen einfühlend vorgenommen wurde, sind sehr erhellend. Aber auch der Versuch, bei aller Verschiedenheit Gemeinsamkeiten bei den Jugendlichen zu entdecken, kann als gelungen eingeschätzt werden, beispielsweise dass die konkrete Lebenssituation der jungen Flüchtlinge zum Zeitpunkt er Interviews wie Aufenthaltsbeschränkungen und materielle Armut durchweg starken, teils zwanghaften Einfluss auf die schulische Leistungsorientierung hatten, dass sich fast alle in ihren Peergroups fremd fühlten und große Probleme hatten, Zukunftsperspektiven, die ihren eigenen Möglichkeiten und Wünschen entspringen, zu benennen(S. 207 ff.).

Um ein geeignetes pädagogisches Rahmenkonzept entwickeln zu können, braucht es laut Autor einen Paradigmenwechsel: Migranten und Flüchtlinge sind eine extrem heterogene Gruppe und bedürfen zum einen der Bildung von »Subgruppen« und zum anderen der Nutzung vielfältiger Informationen über diese Gruppen und jede/n Einzelne/n für die pädagogische Arbeit mit ihnen. Um diese jungen Menschen zu verstehen, gilt es, deren individuelle Lebenserfahrungen, Erlebensmodi und Beziehungsmuster in fördernden Dialogen zu entschlüsseln (S. 233 f.).

Weil Lehrkräfte darauf kaum vorbereitet sind, fühlen sie sich eher überfordert, rat- und hilflos. Hier können, solange dies in der Lehrerausbildung noch nicht verankert ist, neben der eigenen Reflexion die Intravision im Team und die (Gruppen-)Supervision unter professioneller Begleitung helfen, die Bedürfnisse dieser Kinder und Jugendlichen besser zu verstehen und zugleich den Lehrkräften mehr Sicherheit im Umgang mit ihnen zu geben (S. 244ff.).

Für das Verstehen junger Flüchtlinge heute ist dieses Buch ein Muss!

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